Warum ist Finanzkapitalismus einfach nur schlechter Kapitalismus? Haltlose und zum Teil auch kriminelle Spekulation hat nicht erst seit 2008, sondern über mehrere Dekaden ein nachhaltiges Wirtschaften im Interesse der Menschen verdrängt. Diese Entwicklung war von der Politik grundsätzlich gewollt. Insbesondere sie selbst hat sich viel zu lange den Begehrlichkeiten "der Märkte" gebeugt. So konnten sich Banken, Fondsgesellschaften und Börsen von Dienern zu Herren der Ökonomie aufschwingen.
Anders gesagt: Das Finanzkapital sticht seit langem das Produktivkapital - und damit die gesamte reale Wirtschaft der Güter und Dienstleistungen. Unternehmen und Arbeitnehmer, ja ganze Staaten werden von "Analysten" am Nasenring willkürlich gewählter Kennziffern für Profitabilität durch die Arena der Weltwirtschaft gezogen. Das politisch motivierte Experiment einer einheitlichen Währung für (derzeit noch 19) vollkommen verschieden strukturierte Volkswirtschaften hat die globale Krise des Finanzkapitalismus in Europa zusätzlich verschärft.
Am Anfang der Entwicklung, für die in der Politik konservative Ikonen wie Ronald Reagan und Margaret Thatcher standen, regierte noch das Pathos der Freiheit. Staat, Regierungen und mächtige Interessengruppen sollten Wirtschaftsbürgern und Unternehmen nicht länger vorschreiben, was sie zu tun und zu lassen haben. Freiheit bedeutete vor allem Freihandel. Steuern galten wieder als Raub am hart arbeitenden Individuum. Der Staat als Wirtschaftssubjekt war teuer, langsam, ineffizient und bürokratisch - ein ewiger Bremser auf der Straße des Fortschritts.
"There is no such thing as society" (deutsch: So etwas wie eine Gesellschaft gibt es nicht), liebte die Eiserne Lady zu verkünden. Wenn man ihn nur ließe, dann würde "der Markt" schon alles richten. Nicht nur die Verteilung von Brötchen oder Autos, auch das Eisenbahn- und das Gesundheitswesen oder die Altersvorsorge. Und der riesige Reichtum der Wenigen? Nun, der würde früher oder später auch zu den Massen "durchsickern", glaubten viele.
Die Privatisierung der britischen Bahn entpuppte sich freilich noch in Thatchers Amtszeit als einer der katastrophalsten Flops der neueren Wirtschaftsgeschichte. Und selbst das in Sachen Sozialstaat notorisch abstinente Amerika hat heute eine allgemeine Krankenversicherung. In der historischen Rückschau auf die Epoche des "Neoliberalismus" kann man jedoch erkennen, dass es deren Verfechter gar nicht so sehr auf die Deregulierung der Waren- und Dienstleistungsmärkte abgesehen hatten; auch nicht auf die Privatisierung möglichst aller wirtschaftlichen Aktivitäten des Staates.
Dereguliert wurden vor allem die Kapitalmärkte. Ironischerweise wurde dieses fatale Projekt eines nahezu unverblümten "Enrichissez-vous" (deutsch: bereichert euch) nicht etwa von "rechts", sondern von "links" auf die Spitze getrieben - von Demokraten Bill Clinton und Sozialdemokraten wie Tony Blair und Gerhard Schröder. Die frühen Heroen des "freien Marktes" waren längst in Rente, als New Yorks Wall Street, Londons Canary Wharf oder die Neue Börse im Frankfurter Industriehof hypertroph zu wachsen begannen - und folglich permanent zur Insuffizienz neigten.
Eineinhalb Dekaden später lässt sich klar erkennen, warum die Deregulierung der Finanz- und Kapitalmärkte ein Irrweg historischen Ausmaßes war. Nicht, weil es ein 82-Millionen-Volk wie das der Deutschen nicht ertragen könnte, dass sich die runde Million deutscher Dollarmillionäre keine echten Sorgen machen muss. Selbst den 1810 Milliardären des Erdballs würde man von Herzen das Beste wünschen. Ließen sie sich doch bequem in manchem Dorf auf der Schwäbischen Alb unterbringen - selbst wenn sie da sicherlich Probleme hätten, ihre 6,48 Billionen Dollar Vermögen auf den Kopf zu hauen.
Das eigentliche Problem ist nicht einmal, dass in den Zockerbuden in Börsen und Bankentürmen neben ausgebufften Finanzprofis zunehmend Blender, Betrüger und kriminelle Spekulanten sitzen. Näher kommt man dem eigentlichen Problem damit, dass 0,1 Prozent der Weltbevölkerung über 80 Prozent des weltweiten Finanzvermögens besitzen. Dies ist nicht bloß "ungerecht" - was eher ein moralisches Problem wäre. Diese Vermögensverteilung hat daneben noch ein ganz anderes Problem: Sie ist vor allem ineffizient.
Selbst wenn sie Heerscharen von Beratern haben: Wenn weltweit rund neun Millionen Menschen entscheiden, wofür das global verfügbare Kapital investiert wird und wofür nicht, dann hat das nichts mit freien Märkten und mit Wettbewerb zu tun. Im Gegenteil: Finanzkapitalismus ist schlicht und einfach ganz schlechter Kapitalismus! - Warum?
Nun, bekanntlich irrt der Mensch, so lang er strebt. Weshalb es gerade bei der Zuweisung wirtschaftlicher Mittel sinnvoll ist, das Risiko des Irrtums möglichst breit zu streuen. Würden aber etwa die Österreicher im Alleingang entscheiden, in welche Unternehmen sie vier Fünftel des weltweit verfügbaren Vermögens stecken, welchen Staaten sie zu welchen Konditionen Geld leihen wollen und wie sich dadurch die verfügbaren Einkommen auf dem Globus verteilen, dann wäre unsere größte Sorge wohl nicht, dass sich DJ Ötzi & Co. dabei auch privat die Taschen vollstopfen. Unsere größte Sorge müsste sein, dass unsere geschätzten Nachbarn allzu oft aufs falsche Pferd setzen. Seriöse formuliert: Unser heutiger Finanzkapitalismus verteilt das globale Investitionskapital, die Mittel zur Finanzierung aller öffentlichen Güter, sowie die verfügbaren Einkommen auf die denkbar schlechteste Weise.
Denn über 90 Prozent des Geldes auf der Welt kursiert ausschließlich innerhalb des Finanzsektors. Es ist Geld, das Geld verdient. Ohne längere Umwege in die Realwirtschaft von Gütern und Dienstleistungen produziert es in der Sphäre reiner Spekulation regelmäßig Klumpenrisiken und Kreditblasen gigantischen Ausmaßes. Gewiss, das macht wenige Reiche auf dem Papier zunächst reicher. Doch vor allem pervertiert es den gesellschaftlichen Sinn von Reichtum selbst. Alles, wozu Kapitalisten das moderne Kapital einst erfunden hatten.
Kredite? Ohne die hätte kein einziges Pfefferkorn die lange und riskante Reise bis Europa geschafft. Aktiengesellschaften? Sie waren notwendig, um das Kapital für zuvor weder nötige noch mögliche Investitionen in Eisenbahnen oder Stromnetze zusammenzubekommen. Staatsanleihen? Anfangs eine Notlösung von Königen und Kaisern zur Finanzierung des Krieges. Erst die moderne Finanzindustrie machte Kredite - nach den Steuern - zur zweitwichtigsten Geldquelle des Staates.
Die Staatsanleihe ist nichts anderes als der Schwitzkasten des Kapitals, dem die Politik seit rund 40 Jahren kaum noch entkommen kann. Warum? Weil auf jeden konservativen Ökonomen, der um zwölf auf die hohe Staatsverschuldung schimpft und um fünf nach zwölf Steuersenkungen fordert, mindestens 1000 Banker kommen, die noch dem letzten verzweifelten Finanzminister ein Schuldpapier andrehen. Erst die Finanzindustrie kam auch auf die im Grunde abenteuerliche Idee, dass gefälligst jedermann Schulden zum Zwecke des Konsums zu machen habe. Optionsscheine? Derivate aller Art? Man mag es heute kaum noch glauben, aber auch dies waren einst sinnvolle Finanzinstrumente zur Absicherung echter Geschäfte gegen Preis- und Währungsschwankungen. Erst in den späten 80er-Jahren des vorigen Jahrhunderts wurden sie zu den Lieblingsspielzeugen von Finanzmathematikern und Zockern.
Der Kapitalfehler des Kapitalismus besteht unserer Meinung darin, dass kaum jemand die langen Wellen und Zyklen dieses Wirtschaftssystems auf dem Sender hat. Dass weder die Mehrheit der Bürger, der Sparer und der normalen Anleger, noch die Mehrheit der Politiker und der Unternehmer wirklich versteht, wann und warum das System in be-stimmten Abständen von echten Investitionen und Innovationen auf realwirtschaftlich am Ende zerstörerische Spekulationen umschwenkt. Und warum man die Finanzmärkte gerade dann an die Kandare nehmen muss, wenn die Realwirtschaft nach allgemeiner Einschätzung blüht und gedeiht.
Denn das haben die Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre und die Finanzkrisen seit der Jahrtausendwende gemeinsam: Als alle nach Regulierung riefen, war das Kind namens Kapitalismus schon völlig verzogen. Vernünftige Eltern wissen: In der Pubertät bringen Belehrungen und strenge Regelwerke meist nur noch wenig. Nicht anders ist es mit den Grundregeln des ehrbaren Kaufmanns. Man muss sie bereits dann in Gesetze gießen, wenn außer ehrbaren und erfolgreichen Kaufleuten kaum einer auf dem Markt unterwegs ist. Nur so verhindert man, dass irgendwann auch eine Karriere Taschendieb aussichtsreich erscheinen kann.
Wir fordern eine noch striktere, komplette und ständige Regulierung der Finanzwelt, denn eine deregulierte Finanzwelt führt immer zu Krisen, zu Exzessen, zu Spekulationswut. In den letzten 16 Jahren hatten wir viele große Finanzmarktblasen, die geplatzt sind, und momentan pumpen wir weitere auf. Die Finanzwelt schwingt das Zepter, die Politik ist machtlos, und wir dürfen alle dafür zahlen. Es steht außer Frage, dass Banker und Börsianer in ihren heute kaum noch abzählbaren Kostümen von Kapital, Kredit und Kreditabsi-cherung von allen "Wirtschaftssubjekten" am schnellsten und am verlässlichsten volkswirtschaftlichen Schaden anrichten?
Anders als es die Verfechter unregulierter Finanzmärkte behaupten, sorgen diese gerade nicht dafür, dass Kapital an die volks- oder gar weltwirtschaftlich besten, an die dem allgemeinen Wohlstand förderlichsten Stellen transportiert wird. Denn bei genauerem Hinsehen beobachten die Finanzmärkte die Realwirtschaft kaum. Besser gesagt: An einigen Stellen beobachten sie sie zwar wenigstens noch indirekt - vor allem über die Kurse von Unternehmensanteilen. Doch zu weit über 90 Prozent beobachten die Akteure an den Finanzmärkten sich nur gegenseitig.
Das ist schon deshalb von Übel, weil Herdenverhalten nirgends ausgeprägter ist als in der kleinen Herde der Anlageakrobaten. Und es ist von Übel, weil die wichtigste Einnahmequelle der dort tätigen Individuen leider nicht Investitionserfolge, ja nicht einmal Arbitragegewinne sind, sondern Prämien und Provisionen. Die aber gibt es nicht nur für erfolgreiches Handeln, sondern viel zu häufig schon für Handeln an sich.
Zur Person
Matthias Weik und Marc Friedrich sind beide Ökonomen, Redner und Berater aus Baden-Württemberg.
Sie haben mehrere erfolgreiche Wirtschaftsbücher veröffentlicht.
Im Mai 2016 ist ihr dritter Bestseller "Kapitalfehler - Wie unser Wohlstand vernichtet wird und warum wir ein neues Wirtschaftsdenken brauchen" erschienen.
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