Am 23. Juni 2016 haben sich die Briten für einen Ausstieg aus der Europäischen Union entschieden. Bei einer Wahlbeteiligung von mehr als 70 Prozent sprach sich eine Mehrheit von 51,9 Prozent der Wähler für den Brexit aus. Es besteht eine große Unsicherheit darüber, wie es weitergehen wird. Diese Unsicherheit ist in der Wirtschaft schon angekommen.
Kurz vor dem Brexit-Votum waren die Erwartungen der Finanzexperten, die im ZEW-Konjunkturindex erfasst werden, noch sehr optimistisch ausgefallen. Im Juli, nach dem unerwarteten Ausgang des Referendums, verzeichneten die Konjunkturerwartungen hingegen den größten Rückgang seit langem und erreichten den niedrigsten Stand des Indikators seit November 2012. Auch wenn der Indikator sich im August wieder etwas vom Brexit-Schock erholt hat, stehen die europäischen Banken unter hohem Druck, und über weitere Staatshilfen für italienische Banken wird vielfach spekuliert.
Artikel 50 des Vertrags über die Europäische Union regelt den Ausstieg eines Landes und sieht eine zweijährige Verhandlungsfrist vor, die im gegenseitigen Einvernehmen zwischen den Verhandlungspartnern auch verlängert werden kann. Aber sowohl das Vereinigte Königreich wie die europäischen Staaten haben ein hohes Interesse, die Verhandlungen zügig zu führen. Die Unsicherheit schadet allen.
Die Tücken der Verhandlung liegen im Detail: Werden Bankgeschäfte von England aus in Kontinentaleuropa weiterhin möglich sein? Gilt das europäische Markenrecht weiterhin im Vereinigten Königreich? Können sich britische Universitäten weiterhin an europäischen Forschungsprojekten beteiligen? Und wie stark wird die Personenfreizügigkeit eingeschränkt werden?
Ökonomisch scheint die Lage klar zu sein: Nicht ohne Grund sprachen sich vor dem Votum die ökonomischen Kommentatoren fast einhellig für einen Verbleib des Vereinigten Königreichs in der EU aus. Selbst die gescholtene Personenfreizügigkeit ist für das Vereinigte Königreich ein (fiskalischer) Gewinn - die Zuwanderer zahlen mehr in den Staatshaushalt hinein als sie entnehmen. Wenn es nicht so absurd wäre, würde man den Briten deshalb raten, die jetzigen Verträge als Verhandlungsbasis zu nehmen.
Eine starke Stimme
Mit dem Vereinigten Königreich löst sich aufgrund der Unzufriedenheit mit den Entscheidungen der EU ein wesentlicher Bestandteil aus der Union. Die EU verliert dabei einen prägenden Partner bei der Gestaltung der europäischen Wettbewerbsgesetze, eine starke Stimme für eine liberale Handelspolitik sowie einen wichtigen Fürsprecher einer kosten- und zielorientierten Klimapolitik. Es wäre deshalb für die EU unangemessen, zu einem "business as usual" zurückzukehren. Sie muss, über die anstehenden Verhandlungen mit dem Vereinigten Königreich hinaus, reagieren.
Die Unzufriedenheit mit der EU ist in vielen europäischen Ländern zu beobachten. Sie entspringt sicherlich auch dem Gefühl der Fremdbestimmung durch Brüssel. Trotz demokratisch legitimierter Institutionen wie Europaparlament und Europarat fühlen sich viele Menschen nicht ausreichend vertreten. Auch wenn die nationalen Minister an den Entscheidungen in Brüssel beteiligt sind, schieben die Regierungen dennoch allzu gerne Brüssel als scheinbar übermächtiger Instanz den schwarzen Peter zu, wenn sie dadurch den Konflikt mit nationalen Interessensgruppen vermeiden können.
Debatten zurückverlagern
Die aktuellen Diskussionen um CETA - ein jüngst zwischen der EU und Kanada geschlossenes Handelsabkommen - und TTIP sind dafür exemplarisch. Die von allen Mitgliedstaaten legitimierte Zuständigkeit für die Verhandlungen und die Verabschiedung dieser Abkommen liegt bei den Gremien Kommission, Parlament und Ministerrat. Dieses Verfahren macht es den nationalen Politikern aber zu einfach, Kritik an den Verträgen für Stimmungsmache und Bedienung des eigenen Wählerklientels zu nutzen. Diese Dynamik lässt sich nur umgehen, wenn die Debatten in die nationalen Parlamente rückverlagert werden. In Bezug auf CETA ist nun genau dies erfolgt: Auf den Druck der Ereignisse hin hat die Kommission das Vertragswerk als gemischtes Abkommen deklariert, so dass auch die nationalen Parlamente Stellung beziehen und entscheiden müssen.
Das gängige und überzeugende Argument gegen eine Verlagerung von Entscheidungen zurück in die nationalen Parlamente, ist die Möglichkeit der Blockade von Verfahren durch einzelne Staaten, die ganz Europa handlungsunfähig machen könnte. Dies ließe sich umgehen, wenn man entweder von der Einstimmigkeitsregel abweichen würde, was den Unmut gegenüber Brüssel in überstimmten Ländern noch verstärken dürfte. Oder wenn man alternativ Abkommen zulassen würde, die nicht von allen europäischen Ländern ratifiziert werden. Ein Europa der mehreren Geschwindigkeiten, oder, weniger wertend, ein Europa der variablen Geometrie, wäre die Folge.
Dies könnte rein pragmatische Vorteile bringen: Die Entscheidungsprozesse könnten beschleunigt werden, da Abkommen schneller ratifiziert und in nationales Recht umgesetzt werden. Die Europäische Union gewinnt ihre Stärke dadurch, dass sie Projekte umsetzt, die gemeinsam effizienter und effektiver als durch nationale Lösungen bewältigt werden können.
Der europäische Binnenmarkt ist ein solches Projekt, das den Wohlstand in Europa gemehrt hat. Weitere Beispiele, die allerdings noch der Umsetzung bedürfen, wären eine bessere Zusammenarbeit in der Flüchtlings- und Außenpolitik, etwa durch eine gemeinsame Repräsentanz durch Botschaften und Konsulate. Eine variable Geometrie würde erlauben, akute Themen zeitnah angehen zu können und schneller handlungsfähig zu sein.
Zudem hat diese Perspektive auch einen anderen Reiz: Während jetzt eine nationale Ablehnung von CETA das gesamte Vertragswerk in Frage stellt und als Protest gegen Europa genutzt werden kann, würden es sich die jeweiligen Abgeordneten bei einer nationalen Entscheidung genau überlegen, ob sie zu den Ländern gehören wollen, die sich dem Vertrag entziehen. Der Wettbewerbsnachteil gegenüber den Ländern der EU, die dem Abkommen beitreten, wäre signifikant.
Die Entscheidung der Briten, die EU zu verlassen, ist eine Zäsur. Nicht nur Großbritannien wird sich verändern, auch die EU wird sich ändern müssen. Um Europa muss wieder in den nationalen Parlamenten gerungen werden. Die Sitzung im britischen Parlament am Montag nach dem Referendum, in der die britischen Abgeordneten die Konsequenzen des Brexits diskutierten, war ein Schritt dahin. Selten wurde im House of Parliament so viel über die Vorteile der europäischen Zusammenarbeit gesprochen.
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