Hintergrund - Wissenschaft diskutiert darüber, ob die moderne Medienkultur jungen Menschen das politische Bewusstsein raubt

Digitale Analphabeten?

Von 
Tilmann P. Gangloff
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Wie stark beeinflussen Netflix-Algorithmen die politische Einstellung der Nutzerinnen und Nutzer? © iStock

Netflix verspricht ein unbegrenztes Sehvergnügen: Filme, Serien und Dokumentationen, so viel das Herz begehrt, immer und überall; ein Schlaraffenland für alle, die sich gern Geschichten in bewegten Bildern erzählen lassen. Medienwissenschaftler Marcus S. Kleiner ist jedoch überzeugt, dass der Streamingdienst eine Gefährdung für die Demokratie sei. Das klingt zunächst absurd; Netflix ist schließlich kein rechtspopulistischer Sender wie Fox News, der die Amerikaner 24 Stunden am Tag mit reaktionären Botschaften bombardiert. Kleiner, Professor für Kommunikations- und Medienwissenschaft an der SRH Berlin University of Applied Sciences und Autor des Netflix-kritischen Buches „Streamland“, zielt mit seiner Kritik jedoch vor allem auf das Nutzungsverhalten.

Der Netflix-Clou ist die Empfehlungsoption: Kaum ist eine Serie zu Ende, wird die nächste angeboten; der Algorithmus kennt die Vorlieben der Kundschaft besser als diese selbst. Ausgerechnet in diesem Service sieht Kleiner eine Gefahr. Die Empfehlungen lenkten unseren Blick auf die Wirklichkeit, wie der Medienwissenschaftler am Beispiel der Politserien verdeutlicht: „Nachdem ich mir die erste Staffel von ‚House of Cards’ angeschaut habe, empfiehlt mir Netflix weitere Serien, die die Medialisierung von Politik darstellen. Sie vermitteln allesamt den Eindruck, dass Politiker machthungrige, korrupte, manipulative Blender sind und keinerlei Interesse an den Bürgerinnen und Bürgern haben. Dieses Vorurteil hat sich in den letzten Jahren im Zuge der zunehmenden Politikverdrossenheit ohnehin stark verbreitet. Viele Menschen bezweifeln, dass man Politikern noch vertrauen kann, weil ständig die Rede von Skandalen und Machtmissbrauch die Rede ist.“ Darüber hinaus könne die junge Generation kaum noch selbstbestimmte Entscheidungen treffen: „Sie ist so daran gewöhnt, alle Antworten vorgefertigt präsentiert zu bekommen, dass sie nicht mehr in der Lage ist, sich Wissen selbst zu erarbeiten oder Informationen wirklich zu durchdringen.“

Junge Männer häufiger betroffen

Netflix erreicht vor allem urbane, gut ausgebildete junge Menschen, die sich Kleiners These zum Trotz für medienkompetent und politisch informiert halten. Der Wissenschaftler spricht von „Hashtag-Aktivismus“: „Viele junge Leute binden #MeToo oder #BlackLivesMatter in ihre sozialen Netzwerke ein und denken, sie seien politisch aktiv.“ Dieses Verhalten spiegele sich auch in den digitalen Erregungskulissen: „Wenn sich jemand in der Wortwahl vergreift, folgt umgehend ein Shitstorm größtmöglicher Empörung. Auf diese Weise werden soziale Netzwerke zu politischen Schauplätzen, aber das hat natürlich nichts mit tatsächlichem politischem Engagement zu tun; es ist im Gegenteil die Banalisierung von politischer Aktivität.“

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Aber lässt sich eine Generation tatsächlich derart über einen Kamm scheren? Kaum jemand kennt diese Altersgruppe besser als Klaus Hurrelmann. Der Sozialwissenschaftler ist Professor of Public Health and Education an der Hertie School in Berlin. Dank seiner Untersuchungen zu Einstellungen und Wertorientierungen von Jugendlichen genießt er großes Ansehen. Er bestätigt Kleiners These, schränkt jedoch ein, sie treffe nur auf einen Teil der Leute zwischen 15 und 25 Jahren zu, „und zwar für jene circa 30 bis 40 Prozent, die keinen hohen Bildungsgrad und keine gute Perspektive haben, was Ausbildung und Beruf angeht“. Junge Männer seien dabei stärker betroffen als junge Frauen. „Die Mediennutzung dieser Gruppe ist in der Regel wenig durchdacht und sehr passiv, Unterhaltung steht eindeutig im Vordergrund, Informationen werden nur oberflächlich aufgenommen. Hier ist die Gefahr groß, dass rechtspopulistische, autoritäre oder nationalistische Positionen leichtes Spiel haben.“

Schulfach Medienbildung

Eine etwa genauso große Gruppe sei medial hingegen „mit allen Wassern gewaschen, hat eine sehr gute Bildung, stammt aus stabilen Elternhäusern, ist politisch engagiert und durchschaut die Tricks der Internet-Anbieter. Diese jungen Leute kennen sich im digitalen Universum aus, sie wissen, wie man Informationen überprüft und verifiziert“. Eine Bewegung wie Fridays for Future würde es gar nicht geben, wenn Kleiners Einschätzung pauschal zuträfe: „Wir haben es im Gegenteil endlich wieder mit einer Generation zu tun, die politisch so wach ist wie seit 15 Jahren nicht mehr.“

Allen anderen attestiert Maya Götz, Leiterin des Internationalen Zentralinstituts für das Jugend- und Bildungsfernsehen beim Bayerischen Rundfunk, aber erhebliche Defizite in der Medienkompetenz: „Für Heranwachsende ist das enorme digitale Angebot eine Herausforderung, für die wir noch keine medienpädagogischen Konzepte haben.“ Kleiner fordert daher dringend ein Schulfach Medienbildung, „und zwar schon in der Grundschule“.

Hurrelmann fordert, Kinder müssten so früh wie möglich lernen, was es heißt, Mitglied einer demokratischen Gesellschaft zu sein, am besten schon im Kindergarten. Dazu gehöre auch die Kompetenz im Umgang mit Medien. Die Kinder hätten weder gelernt, wie man sein Smartphone zu Recherchezwecken benutzt, noch, welchen Quellen man trauen könne: „Corona hat gerade im internationalen Vergleich gezeigt, wie sehr wir es verschlafen haben, digitale Entwicklungen in den Bildungsprozess zu integrieren. Die richtige Einordnung von Informationen zum Beispiel gehört dringend in den Politikunterricht, der sich aber vielerorts immer noch darauf beschränkt, den Unterschied zwischen Bundestag und Bundesrat zu erklären.“

Freier Autor

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