Interview mit Kelly-Family-Sänger

„Ich muss um mein Leben spielen“

Pop: Interview mit Kelly-Family-Sänger Angelo über (zu) frühen Erfolg, Straßenmusik und das Comeback seiner Familie

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Publikumsmagnet am 23. November in der fast ausverkauften SAP Arena: Angelo Kelly (links) singt zusammen mit seinem Bruder Joey (rechts im Hintergrund John Kelly). © Christian Barz

Wenn die Kelly Family mit ihrer „Over The Hump“-Jubiläumstournee 25 Jahre jenes Albums feiert, das sich allein in Deutschland mehr als zweieinhalb Millionen Mal verkaufte, schließen sich gleich mehrere Kreise. Denn zwischen Wunsch und Wirklichkeit, Armut und Weltruhm vibriert das Vierteljahrzehnt der Kellys in alle denkbaren existenziellen Richtungen. Im Telefoninterview findet Angelo Kelly vor dem Konzert in der Mannheimer SAP Arena am 23. November daher Worte großer Nachdenklichkeit, aber auch versöhnliche Töne eines bereits heute tief erfüllten und verrückten Lebens.

Herr Kelly, wenn ein Vierteljahrhundert vergangen ist, seit – in Ihrem Fall als junger Teenager – eine Weltkarriere begann: Mit welchen Gefühlen geht das einher?

Angelo Kelly: Ich bin mit 37 ja noch relativ jung, aber in meinem Leben ist unvorstellbar viel passiert. Speziell das Jahr 1994 gab da einen extremen Ausschlag: Wir lebten auf dem Hausboot, haben noch Straßenmusik gemacht und gleichzeitig arbeiteten wir an einem Album, bei dem wir schon ahnten: Das wird einiges ändern. Der Titel war auch entsprechend frech formuliert: „Over The Hump“ – wir waren uns sicher, mit diesem Album über den Berg zu sein. Dabei darf man nicht vergessen, dass das ja bereits unsere elfte Platte war und wir schon sehr lange Zeit im Geschäft waren. Doch die Entwicklung kam rasant: Auf den Marktplätzen wurde es so viel, dass wir noch vor der Album-Veröffentlichung die Dortmunder Westfalenhalle auf eigenes Risiko buchten und im Mai 1994 plötzlich 17 000 Leute kamen. Das war ein Wahnsinn, ein Rausch und eine Euphorie, die uns alles Spätere ermöglicht hat. Trotzdem ist man auch mit diesen Hochgefühlen irgendwann mal durch.

Wie genau meinen Sie das?

Kelly: Das Album schoss nach oben wie eine Rakete – und musikalisch war das grandios. Aber nach drei, vier Jahren Erfolg brauchst du eine Pause. Das kann man nicht ewig durchhalten.

Dieses Spannungsfeld zwischen Armut und Reichtum, Gratis-Tourneen im Programm des Zirkus Roncalli und ausverkauften Arenen: Wie bleibt man da Mensch?

Kelly: Indem man versteht, dass es nicht anders geht. Dass alles andere keine reale Option ist. Als die Popularität auf dem Höhepunkt war, brauchte ich Security-Kräfte, um von den Leuten nicht überrannt zu werden, oder die Kleider vom Leib gerissen zu bekommen. Und da bist du dann auch froh, alles zu haben, was du brauchst, um dich zu schützen. Aber man sehnt sich auch nach Momenten, in denen man sich frei entscheiden kann zu tun, was ein Mensch eben mag. Da hatte ich das große Glück, dass wir 1996 nach Irland gezogen sind und dort die Kräfte etwas auftanken konnten, wenn wir nicht gerade auf Tour oder im Fernsehen waren. Das waren keine ewigen Momente, aber manchmal reicht eine Ausfahrt mit dem Motorrad, oder ein Spaziergang im Wald, um dich zu heilen und dir zu zeigen: Das gibt es auch noch.

Das Dasein als „Engelsstimme“ hatten Sie längst inne, das Album verkaufte sich satte 2,5 Millionen Mal: Wie groß war die Herausforderung, aus dem Erwartungsdruck dieser Platte eine Kreativität zu formen, die Weiterentwicklung und künstlerische Handschrift kombiniert?

Kelly: Beim direkten Nachfolger „Almost Heaven“ war dieser Druck tatsächlich noch gar nicht so groß. Denn während wir mit „Over The Hump“ vor allem in Deutschland, Österreich und der Schweiz erfolgreich waren, kam mit der nächsten Platte der Erfolg in Europa dazu. Vor allem, weil ich mit „An Angel“ mit der hohen Stimme zwar in Deutschland meinen ersten Hit hatte, zwei Jahre später mit „I Can’t Help Myself“ aber auch spüren durfte, dass gutes Songwriting eine große Rolle spielt und ich auch mit der tiefen Stimme nicht auf verlorenem Posten stehe.

Trotz allem – dieser Balanceakt zwischen Überleben und Ruhm geht doch nicht spurlos an einem vorbei. Wie geht man damit um, ohne dass das auf die falsche Seite kippt?

Kelly: Es kippt ganz schnell in die falsche Richtung. Man kann als Mensch abheben. Man nimmt auch Menschen wahr, die auf einmal da sind, aber auch ganz schnell wieder weg sind, wenn es nicht mehr läuft. Da muss man sehr darauf achten, man selbst zu bleiben.

Ist Ihnen das immer gelungen?

Kelly: Ich nehme mich da nicht aus. Ich war in der Zeit auch abgehoben. Es gab Zeiten, da wurde mir die Tasche getragen. Mir wurde die Tür aufgemacht. Einfach solche kleinen Details, die ich wunderbar auch selbst hätte erledigen können, es aber nicht mehr wollte. Und wenn man nicht acht gibt, dann artet das aus. Dann fliegst du nur noch Privatjet und charterst einen zweiten nur für dein Gepäck. Deshalb bin ich froh, dass es in diesen 25 Jahren mindestens zehn gab, in denen der Erfolg ganz gering oder sogar fast weg war.

Warum?

Kelly: In dieser Zeit bin ich wieder zu mir selbst gekommen. Habe Schlagzeugunterricht gegeben, mit Bands musiziert, drei Jahre im Wohnmobil verbracht und auf einmal selbst wieder auf der Straße gespielt. Diese Zeiten haben mir als Mensch enorm viel Fundament gegeben. Auch, weil ich mich mehr um meine Familie gekümmert habe. Wenn du als Künstler weniger Erfolg hast, hast du auch weniger Geld, aber du hast mehr Zeit. Mehr Erfolg bedeutet dagegen weniger Zeit. Alles hat seinen Preis. Und ich denke: Reichtum kann auch bedeuten, dass man Zeit mit seiner Familie hat. Derzeit habe ich das große Glück, Erfolg mit meiner Familie zu haben – allerdings mit dem Unterschied, dass ich diesmal verstehe, was da passiert und auch jederzeit loslassen kann, wenn es wieder nach unten ginge. Es fühlt sich alles viel gesünder an.

Nach dem gigantischen Erfolg auf die Straße zurückzukehren, auf der es nur die eine Stimme und den Augenblick gibt, der viele Menschen völlig zufällig dort hingeführt hat, stelle ich mir als große Herausforderung vor. Wie fühlt sich das an, um die Aufmerksamkeit wieder kämpfen zu müssen?

Kelly: Es war gut, dass es nicht direkt von den großen Hallen auf die Straße ging. Aber es stimmt natürlich: Die Hallen wurden kleiner, die Familie trennte sich und Mitte der 2000er Jahre war eine Kelly-tote Zeit. Das muss man so sagen. Denn auch, wenn ich versucht habe, mein eigenes Ding zu machen: Der Rock, den ich spielte, wollten die Leute von keinem Kelly hören. Das war eine Durststrecke, mit der ich lebte – und trotzdem Brot auf den Tisch bringen musste.

Wie ging es Ihnen persönlich damit?

Kelly: Das war keine einfache Zeit. Denn ich hatte mein eigenes Label gegründet, veranstaltete alles selbst, aber als ich 2006 mehr als 50 Shows in Clubs buchte, tat ich das im Sommer, wenn jeder Mensch einfach draußen sein will. Ich hatte kein Verständnis für Werbung, kündigte meine Konzerte erst ein paar Wochen vor dem Termin an und lernte meine Lektion wirklich auf die harte Tour. Manchmal hatte ich 200 Zuschauer, manchmal 100 – aber einmal war ich in Groningen, blickte durch den Vorhang, sah 30 Leute und dachte mir: „Scheiße, heute zahlst du richtig drauf.“ Und trotzdem war für mich klar: Ich gehe auf diese Bühne und nutze meine zwei Stunden, um diesen 30 Leuten ein Erlebnis zu bereiten und Musik zu machen. Das habe ich in dieser Zeit wirklich gelernt: Ob da fünf oder 5000 Menschen stehen: Ich muss um mein Leben spielen.

Zu dieser Souveränität muss man aber auch erst einmal finden, oder?

Kelly: Es gibt viele Künstler, die jammern, dass die Clubs sie nicht buchen und sie keine Gigs bekommen – aber es stimmt eben nicht. Die Straße ist immer da. Das ist die Bühne, die du dir nehmen kannst. Und die meisten tun genau das nicht, weil sie unterbewusst Angst haben, dass die Leute nicht stehen bleiben. Jede Person, die vorbeiläuft, wird dann plötzlich ein Schlag ins Gesicht.

Das klingt nach eigener Erfahrung.

Kelly: Als ich drei Jahre im Ausland auf der Straße gespielt habe, sind 99 Prozent der Leute vorbeigegangen – aber mich hat das nicht gewundert. Denn die Menschen sind auf den Weg zur Arbeit, müssen kurz etwas einkaufen, sind nicht gut drauf, oder mögen vielleicht einfach nicht, was du spielst. Gemessen an der Größe der Gesellschaft wird es immer mehr Menschen geben, die nicht mögen, was du machst als umgekehrt. Dass dieser Bruchteil reicht, um voll am Start zu sein und davon leben zu können, habe ich immer wieder erlebt. Die Straße ist fantastisch, aber du musst ihre Logik verstehen. Nämlich, dass sie dir zeigt, wie vielfältig die Welt und wie unterschiedlich die Geschmäcker der Menschen sind.

Wenn wir an die Zeit des Comebacks denken, das mittlerweile ja auch zwei Jahre her ist: Wie weh hat das getan, dass Michael Patrick – also Paddy –und Maite weiter ihre eigenen Wege gehen wollten?

Kelly: Zwei Jahre hat, glaube ich, erst einmal jeder mit jedem geredet. Und wir haben gemeinsam überlegt, wie ein Comeback aussehen kann – auch mit Paddy und Maite. Beide haben aus überzeugenden Gründen für sich beschlossen, dass sie jetzt noch nicht mit dabei sein wollen. Aber klar ist, dass sie jederzeit mit einsteigen können, wenn sie das wollen. Das haben wir auch in den Verträgen klar so festgehalten. Die Bühne gehört nicht irgendeinem von uns persönlich, sondern der Kelly Family, und das wird auch so bleiben.

Wenn man sich die Mission und die Behauptung, die mit dem großen Karrierestart verbunden war, heute ansieht: Fühlt man sich „Over The Hump“ – über dem Berg angekommen mit jener süßen Freiheit („Sweet Freedom“), nicht vom Schicksal besiegt worden zu sein?

Kelly: Meine Hauptmotivation, wieder was mit der Familie zu machen, war, dass die unglaubliche Geschichte unserer Familie nicht so traurig enden sollte. Das konnte es nicht gewesen sein. Als wir alte Stücke wie „Once In A While“ plötzlich wieder angefasst haben und sich die Erinnerung mit dem verband, was die Geschichte aus uns gemacht hat, entstand das Album fast von selbst. Die Kraft, die damit verbunden war, hat mich selbst überrascht. Denn wir spürten plötzlich alle, dass wir versöhnt zurückschauen können und wussten: Ob Papa weg war oder wir pleite waren – wir haben es gemeinsam überstanden. Dieses Wissen nun auf Tournee feiern zu dürfen, ist gigantisch. Eine Heilung – für uns und die Fans.

  • Zur Person: Angelo Kelly wurde am 23. Dezember 1981 als zwölftes und jüngstes Mitglied der Kelly Family im spanischen Pamplona geboren. Er stieg als Zwölfjähriger in die musikalische Karriere seiner Familie mit ein und wurde mit seiner Engelsstimme in der Hit-Single „An Angel“ bekannt. Später schrieb er den ersten deutschen Nummer-eins-Hit „I Can’t Help Myself“. 2006 veröffentlichte Angelo Kelly mit „I’m Ready“ sein erstes eigenes Album und ist seitdem als Solokünstler aktiv
  • Zur Band: Als Großfamilie des 1930 geborenen Dan Kelly tourten die Mitglieder seit 1978 unter dem Titel „Kelly Family“ durch die Welt. Zwischen dem künstlerischen Nomadentum in Doppeldeckerbus und Hausboot spielten sie zunächst Konzerte in Straßen und auf Marktplätzen, füllten mit dem 1994 erschienenen Album „Over The Hump“ jedoch auch erstmals Arenen vor zehntausenden Zuschauern. Die vielfach preisdekorierte Band verkaufte bis heute rund 20 Millionen Tonträger und löste sich mit dem Tod des Vaters 2002 zunächst auf. 2017 schlossen sich sieben Mitglieder der Kelly Family zu einem Comeback zusammen – sie sind auch Teil der aktuellen Tournee.
  • Zum Konzert: Die Kelly Family macht am Samstag, den 23. November, um 19.30 Uhr mit ihrer „25 Jahre Over The Hump“-Tournee in der Mannheimer SAP Arena Station. Restkarten ab 64,90 Euro gibt es bei allen bekannten Vorverkaufsstellen sowie den Kundenforen dieser Zeitung. 

 

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