Mannheim. Gitarrist Richard Zven Kruspe erklärt sein Emigrate-Album „The Persistence Of Memory“, wie Musik als Zeitmaschine funktioniert und warum Konzerte mit Rammstein ihm reichen.
Herr Kruspe, …
Richard Zven Kruspe: Ich habe mich gerade gefragt, ob das so eine Art Wettbewerb gewesen ist, dass man früher Kinder gerne mit Doppelnamen versehen hat: Hans-Ulrich, Jörg-Peter…
In unserer Generation offenbar. Wobei Jörg-Peter gar nicht so häufig ist. Deswegen sagen Leute, die mich eher mittelgut kennen, oft Klaus-Peter. Aber gegen Karl-Heinz kommt man zahlenmäßig sicher nicht an…
Kruspe: Stimmt.
Bei Ihnen kursieren ja noch Richard Zven oder Richard Z. als Vornamen. Dabei haben Sie den Taufnamen Zven längst abgelegt, oder?
Kruspe: Den habe ich im Grunde komplett rausgenommen. Ich bin ja auch der Meinung, dass man ab einem bestimmten Alter seinen Namen selbst bestimmen sollen dürfte. Logischerweise müssen Eltern ihrem Baby einen Namen geben. Aber irgendwann fühlt man sich damit vielleicht nicht mehr wohl. Dann sollte man es den Leuten einfacher machen, ihren Namen zu ändern. Denn das ist in Deutschland total schwer, was ich selbst erfahren habe.
Was hat Sie daran gestört?
Kruspe: Im Osten war es oft so, dass man belegen musste, dass es einen Namen schon gibt. Ich sollte eigentlich Morten heißen, aber den fand man nicht. Deshalb hat mich meine Mutter Zven genannt. Aber damit konnte ich mich nie identifizieren, deshalb hatte ich jede Menge Spitznamen. Später habe ich dann Richard, den zweiten Namen meines Vaters, übernommen. Weil ich mit Zven gar nichts zu tun hatte. Wollten Sie mal Ihren Namen ändern?
Nein. Aber ich finde es gut, wenn Eltern erstmal ein, zwei Tage warten, was da eigentlich für ein Wesen auf die Welt gekommen ist.
Kruspe: Ich glaube, das ist insgesamt so ein Ritual. Man ist schwanger zusammen, dann ist mit das Erste, was man macht, sich Namen zu überlegen und mit Eltern und Freunden zu besprechen. Das ist Teil des Kinderbekommens. Das ist auch okay. Aber irgendwann sollte das Kind sich entscheiden können: „Nein, ich fühle mich doch nicht wie … Detlef“ (lacht).
Oder Adolf…
Kruspe: Adolf ist am einfachsten überhaupt, den Namen bist du an einem Tag los. Ansonsten ist es extrem schwierig. In den USA musst Du dafür ganz viel bezahlen.
Manche sagen ja, der Vorname prägt – im Sinne von „Das Sein bestimmt das Bewusstsein“.
Kruspe: Ja, klar. So ein Name hat natürlich eine Resonanz. Da glaube ich ganz fest dran. Ich habe mal mit einem indischen Spirituellen gesprochen. Der sagte mir zum Bandnamen Emigrate „Mach mal lieber nichts mit E. Lieber etwas mit R.“ Da musste ich sagen: „R habe ich schon: Rammstein“ (lacht).
Damit sind wir beim eigentlichen Thema. Dem neuen Emigrate-Album. Wie so viele haben Sie die Zeit in den so genannten Lockdowns zum Aufräumen genutzt – ist das vierte Album ihres Solo-Projekts also das Ergebnis der Isolation?
Kruspe: Ja, zumindest zum Teil. Die Isolation war schon vorher da. Die kam schon nach der letzten Tournee, die ich mit Rammstein gemacht habe. Das war ja unsere erste durchgängig große Stadiontour. Danach bin ich schon irgendwie in ein Loch gefallen. Das kannte ich schon, aber da war es extrem, so dass ich aus dem Löchlein nicht richtig rauskam. Ich habe da einiges probiert und sogar überlegt, mit der Musik aufzuhören, weil ich keinen Sinn mehr darin gesehen habe. Für mich war dann die Erinnerung ein wichtiger Faktor dabei, mich wieder zu finden. Konkret beim Hören des alten Materials, bei dem ich mich in die Stimmung zum Zeitpunkt des Schreibens versetzt und mich gefragt habe: Warum habe ich das damals geschrieben? Musik ist ja ein wunderbarer Transporter von Erinnerung. Das kennt ja jeder. Durch das Bewegen in der Vergangenheit konnte ich die Gegenwart gesehen, was mich dann in die Zukunft gebracht hat – ein bisschen wie eine Zeitmaschine. Wie man das aus „Zurück in die Zukunft“ kennt.
Also gilt auch für Sie, dass Musik die beste Therapie ist? Sie haben ja Gitarrespielen schon früh als Brücke aus der Einsamkeit beschrieben.
Kruspe: Therapie? Ja, das könnte man so sehen. Aber der ganze Prozess war therapeutisch. Weil ich Musik reflektieren konnte: Was wollte ich damals eigentlich machen? Was wollte ich aussagen? Hatte ich überhaupt etwas zu sagen? Das hatte gar nichts mit der Pandemie zu tun. Sie hat mir eher ein bisschen mehr Zeit gegeben, mich auf das Projekt zu konzentrieren. Alles andere lag ja still.
Startet die Platte also ganz bewusst mit „Rage“, also Wut, aber in einem ähnlich positiven Sound wie viele Songs des Vorgängeralbums?
Kruspe: Bei „Rage“ geht es mir eher darum, wieder zusammenzukommen, nach einer Zeit der Isolation wieder in das gesellschaftliche Leben einzutreten. Was für mich extrem schwierig war. Durch die Pandemie habe ich gelernt, wie schnell sich ein Mensch an bestimmte Dinge gewöhnen kann – wie Einsamkeit zum Beispiel. Was wiederum andere Dinge zum Vorschein bringt. Dann wieder in das soziale Gefüge wieder einzutreten, war für mich schwieriger, als in die Einsamkeit zu gehen.
„Freeze My Mind“ ist die stärkste und zugleich die älteste Nummer. Sie stammt aus 2001. Gab es Aktualisierungsbedarf?
Kruspe: Vor 20 Jahren ging es um den Weggang aus Berlin nach New York und die Probleme, die wir damals in meiner Band hatten. Da ging es schon auch um „Ich zeig’s euch mal“ und New York als neue Inspiration. Das war mich immer noch sehr schlüssig. Insofern gab es gar nicht viele Änderungen, eher etwa handwerkliche Eingriffe etwa im Arrangement. Nach dem Motto: Der Teil ist jetzt etwas lang, das macht man heute anders.
„Hypothetical“ ist der härteste Song. Es scheint Sie aufzuregen, wenn es nur um Hypothesen geht – schwierige Zeiten gerade, oder?
Kruspe: „Hypothetical“ sagt man ja, wenn etwas nicht Wirklichkeit ist. Im Sinne von „es könnte passieren“. Also Dinge im Kopf – wie Phantasie.
Interessant ist „Always On My Mind“ als Duett mit Rammstein-Frontmann Till Lindemann, deutlich näher an der Elvis-Ballade als am späteren Hit der Pet Shop Boys. Dabei ist Ihr Ansatz doch auch recht elektronisch?
Kruspe: Ja, wobei der Elvis-Hit auch schon eine Coverversion war. Vor zehn Jahren gab es mal die Idee der Plattenfirma, etwas von Elvis aufzunehmen – und das war der einzige Song, der davon übrig geblieben ist. Ich bin eigentlich gar kein so großer Elvis-Fan … gewesen. Dann bekam ich die Originalspuren. Es hat mich vom Handwerklichen total interessiert, wie die damals aufgenommen haben. Das hat sich ja komplett verändert. Damals gab es einen Raum, in dem die Band war, und in der Mitte stand der Sänger dicht am Mikrophon. Dann wurde aufgenommen. Ich habe mich dann in seine Vocal-Performance richtig verliebt. Wie er es geschafft hat, sich mit seiner Stimme durch jegliche Art von Sound durchzubeißen, egal, was ich dazu gelegt habe. Faszinierend. Dann habe ich überlegt: Wer hat denn noch so eine Stimme? Ich dachte zuerst an Iggy Pop. Wir sind erst sehr spät auf Till gekommen. Dann ging es schnell. Die Pet Shop Boys sind so Achtziger, wenn ich mir musikalisch eine Zeitzone aussuchen müsste, wäre ich eher in den Siebzigern zugegen.
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Kruspe: Sie dürfen nicht vergessen, dass wir im Osten immer sehr viel später an die Sachen kamen. Wenn überhaupt.
Dann hat es vermutlich wenig Sinn gemacht, dass wir Kritiker am Anfang von Rammstein Einflüsse von Bauhaus oder Laibach in den Sound hineingeheimnist haben. Deren Platten waren ja schon im Westen nicht überall präsent.
Kruspe: Die erste Platte, die ich mir gekauft habe, war von den Dead Kennedys: „Plastic Surgery Desaster“. Die konnte ich in Ungarn kaufen. Das war’s dann. Alles andere war Radio. Oder später die Mix-Kassette. Aber ich hatte einen sehr guten musikalischen Mentor: Gerd „Eiche“ Reichelt, Sänger der Schweriner Band Das Auge Gottes. Der gehörte zu den coolen Typen vom Theater und war ein echter Musikarchivar. Eiche konnte mir genau erklären, welche Band in welcher Zeit und so weiter… Das waren meine ersten musikalischen Unterrichtsstunden, die heute noch immer mal hochkommen.
Der einprägsame Schlusstitel „Let You Go“ verblüfft mit Bläsern – kein ganz übliches Stilmittel für harte und/oder elektronische Musik? Oder gab es das schon mal bei Ihnen?
Kruspe: Ne, ich musste bei dem Song am Ende komischerweise an The Cure denken. Die haben ja auch oft Bläsersachen drinne. Ich bin da relativ offen und mische Crossover-mäßig gern Dinge, die normalerweise nicht zusammengehören. Aber was heißt normalerweise? Früher gab es mehr Engstirnigkeit: Früher gab es die Metal-Typen, die nur Metal gehört haben. Die Punks nur Punk. Ich war da immer irgendwie dazwischen. Ich fand das alles interessant, auch Kraftwerk oder die New Romantics. Ich habe mich da immer wie ein Ausgesetzter gefühlt, weil ich es einfach langweilig fand, nur eine Art von Musik zu hören. Da hatte man keinen leichten Stand und galt als musikalischer Mitläufer. Irgendwann war mir das aber völlig egal.
Mir tut die Streaming-Generation fast ein wenig leid, weil sie fast alles auf einmal vor der Nase haben. Auch im Westen musste man ja mitunter viel Zeit oder Geld investieren, um eine Platte oder ein bestimmtes Lied zu haben. Das hat man dann zwangsläufig extrem wertgeschätzt.
Kruspe: Da gehen Sie von ihrem Standpunkt aus. Die Kids heute sind ja so aufgewachsen, für die ist das normal. Was sich logischerweise verändert hat, ist dass Rock keine Volksmusik mehr ist und nichts mehr mit Rebellion zu tun hat. Rebellion findet heute im Text statt. Die mussten sich eine andere Art von Rebellion suchen. Deshalb ist Hip-Hop heute so stark. Früher habe ich den Kassenrekorder mit „Highway To Hell“ von AC/DC aufgedreht, bis meine Eltern meinten „Mach doch mal leiser!“ Wenn meine Tochter das heute hören würde, käme von mir doch nur „Ey, geil!“
Wenn Ihre Tochter Sie ärgern wollte, würde sie vermutlich die Amigos aufdrehen.
Kruspe (lacht): Wahrscheinlich. Generell Schlager! Schlager ist für mich die größte Form der Lüge überhaupt. Dieses ständige so tun, als ob alles gut ist, dieses Lächeln (stöhnt). Das geht mir so gegen den Strich!
Dass man früher als Verräter zum Beispiel an Rock galt, wenn man mal etwas Anderes gehört hat, hatte aber auch damit zu tun, dass Musik damals für viele ein entscheidender Baustein der Identitätsbildung war. Auch abseits von Rebellion, bei Poppern zum Beispiel. Dass das heute höchstens noch in Metal und Hip-Hop dauerhaft der Fall ist, nimmt Musik doch etwas von ihrer Bedeutung. Oder?
Kruspe: Das stimmt nicht ganz. Wenn die Kids heute Electro hören, dann hören sie Electro.
Und vier Monate später etwas Anderes.
Kruspe: Nenene. In meinem Umfeld jedenfalls nicht. Eine Zeit lang wollte ich mit Emigrate als DJ rausgehen und die Dinge vermixen. Ich hab dann Unterricht genommen, und der Typ hat zu mir gesagt: „Electro ist Electro. Da kannste keine Gitarren bringen.“ Es gibt schon heute auch noch diese Engstirnigkeit. Was anders ist: Es gibt nicht mehr diese Verschworenheit auf diese eine Band wie beim Fußballteam. Es gibt halt mehrere. Und Musik ist nur ein Teil des heutigen Freizeitverhaltens. Da kommen so viele andere Dinge mit dazu. Für uns war Musik noch eines der Medien, um uns zu repräsentieren und auch zu identifizieren. Heute haben die ganz andere Themen, da ist Musik nur eines davon.
Es gibt eine Facebook-Fanseite We Want To See Emigrate Live. Kann man den Leuten Hoffnung machen, dass Sie mit dem Projekt nach vier Platten auch mal auf Tour gehen?
Kruspe (lacht): Gibt’s? Wusste ich gar nicht. Ich mache Emigrate ja für ein gewisses Gleichgewicht. Um das, was ich in meiner eigentlichen Band nicht machen kann, auszuleben. Und ich hatte nie das Gefühl, dass ich zu wenig live spiele. Ich bin jemand, der mehr Befriedigung findet beim kreativen Prozess im Studio als darin, es auf der Bühne nochmal nach zu kreieren. Das habe ich mit Rammstein, und das ist okay. Mehr brauche ich da nicht. Mein Ego ist damit befriedigt. Das mag superegoistisch sein. Aber jetzt einfach loszugehen, „nur“ wegen den Fans wäre nicht wirklich authentisch, glaube ich. Und gerade bei diesem Projekt war es mir immer wichtig, so authentisch wie möglich zu sein.
Zum Schluss die zurzeit wohl unvermeidliche Ost-West-Frage: Rammsteins Lust an der Provokation habe ich immer mit dem Spaß an der Renitenz in Verbindung gebracht, dass man keine Lust hat, sich zu erklären, gängeln und ständig etwas sagen zu lassen. Vor dem Hintergrund des DDR-Regimes. Erklärt das Phänomen womöglich auch das unterschiedliche Wahl- und Impfverhalten im Osten?
Kruspe: Ich weiß es nicht. Ich habe ja elf Jahre in New York gelebt, wohne seit 2011 wieder in Berlin. Mir fehlt da wirklich die Draufsicht, was da wirklich los ist. Berlin ist sowieso wieder anders, finde ich. Die Stadt wird immer internationaler, das kann man mit „dem Osten“ nicht vergleichen. Zumal ich neulich gelernt haben, dass auch die West-Berliner früher von „den Westlern“ gesprochen haben. Ich habe generell ein Problem mit Stereotypen. Ursprünglich komme ich ja aus dem Norden und weiß, dass die Leute da ein bisschen anders sind. Aber ich tue mich schwer damit, zu sagen: Die Sachsen sind so, die anderen anders.
Nachvollziehbar. Wie ist denn Ihr Gefühl mit Berlin? Man denkt ja von außen, da funktioniert nicht mal mehr der Türgriff zum Roten Rathaus…trotzdem wollen viele da leben, weil es so cool ist.
Kruspe (lacht): Vielleicht hat das Unperfekte ja seinen Charme. Aber es gibt einen Haufen Dinge, die schwer laufen. Mein Lieblingsthema ist ja unser wunderbarer Flugplatz. Ich habe gerade das Gefühl, wenn sich der Staat in Sachen einmischt, geht’s nach hinten los. Und dann übernimmt keiner Verantwortung. Aber drehen wir es positiv: Ich liebe den Frühling und Sommer in Berlin, die Offenheit … ich bin ja ein Freund von vielen Kulturen. Ich mag das. Schon in New York. Wenn ich Bürgermeister wäre, würde ich die Wohnviertel stärker regulieren und sozial mehr mischen. Damit nicht wie im Prenzlauer Berg jegliche Form von Kreativität wegzieht.
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