Mannheim. „Willkommen Goodbye“ – der Albumtitel klingt erstmal gegensätzlich. Das Album hat auch emotional und musikalisch zwei sehr unterschiedliche Seiten. Es wirkt als seien die beschwingten Songs vor Corona entstanden und die melancholischen im Lockdown. Ein bipolares Werk?
Joris: Das klingt so negativ behaftet, nach einer Störung. Wie wär’s mit kontrovers?
Das klingt nach Corona-Schwurblern wie Xavier Naidoo oder Nena.
Joris: Diese Assoziation möchte ich definitiv nicht erwecken. Nennen wir es doch komplementär. Das vordergründig Gegensätzliche ergänzt sich, speziell in dieser Zeit.
Wie bildeten sich die Gegensätze aus?
Joris: Ein Song wie „Nur die Musik“ feiert zum Beispiel, was wirklich nur die die Musik bei mir bewirkt: Mich durch die Zeit reisen und immer die richtigen Töne finden zu lassen. Dann ging der Corona-Lockdown los und plötzlich veränderte sich das Leben schlagartig. Es verändert sich im Grunde kontinuierlich, Dinge kommen und gehen. Aber trotzdem habe ich das Gefühl, dass ich aus der aktuellen Zeit auch etwas Gutes mitnehmen kann. So passt ein Song wie „Willkommen Goodbye“ wohl für uns alle in die Gesamtsituation, obwohl ich ihn vor der Pandemie geschrieben habe. So hat sich das komplette Album dahin entwickelt, wo es jetzt ist. Das spiegelt sich auch im Cover-Artwork wider.
Ab nächster Woche bei „Sing meinen Song“ zu sehen
- Joris Buchholz wurde am 1. Dezember 1990 im niedersächsischen Stuhr geboren und wuchs im ostwestfälischen Vlotho auf. Nach dem Abitur ging der musikalische Autodidakt 2009 an die Berliner Hochschule der Populären Künste. Zwei Semester später wechselte er an die Mannheimer Popakademie. Dort lernte der Sänger seine Band kennen: Bino Engelmann (Drums), Tobias Voges (Bass), Constantin Krieg (Keyboard) und Wolfgang Morenz (Gitarre).
- Im April 2015 stieg das Debütalbum „Hoffnungslos hoffnungsvoll“ auf Platz 3 ein. Noch erfolgreicher war die Single „Herz über Kopf“ (Platin für mehr als 400 000 Stück). 2016 gab’s dafür drei Echos.
- Joris drittes Album „Willkommen Goodbye“ erscheint am 23. April bei Four Music.
- Der Wahl-Berliner nimmt an der achten Staffel der Tauschkonzert-Show „Sing meinen Song“ teil. Bei der zweiten Sendung am Dienstag, 27. April, 20.15 Uhr, stehen Joris‘ Hits im Fokus: DJ BoBo interpretiert „Herz über Kopf“, Reggae-Sänger Gentleman „Im Schneckenhaus“, Soul-Sängerin Stefanie Heinzmann „Signal“, Deutschpop-Star Johannes Oerding „Glück auf“, Rapperin Nura „Bis ans Ende der Welt“ und Mighty-Oaks-Frontmann Ian Hooper „Du“.
Bei dem ein sehr ernster, aber offener Joris durch ein Bild von sich mit gesenktem Blick schaut. Auch Zufall?
Joris: Die Idee ist eher durch Zufall entstanden. Ich habe am Computer aus Versehen zwei Bilder aus dem Foto-Shooting übereinander gelegt. Und dann festgestellt: „Moment mal, das passt ja hervorragend: Mein erster Song ist ,Sturm Drang‘, der letzte heißt ,Game Over‘.“ Damit war dann auch „Willkommen Goodbye“ als neuer Albumtitel naheliegend. Und wenn ich jetzt die Platte in der Hand halte – ich bin ja Albumkünstler, stelle ich fest: Es gibt eine A-Seite von junger, wilder Zeit mit Songs wie „Untergang“, der davon handelt, wie wir früher gerne im Club gefeiert haben, obwohl wir nicht zu den coolsten Kids gehörten. Da ist viel Fröhlichkeit drin, aber in mir und auf der Platte gibt es natürlich auch die B-Seite mit viel Nachdenklichkeit.
Also ist eine Art Konzeptalbum einfach passiert? Die melancholische Seite vermutlich befördert von der Situation allein im Studio statt wie beim Vorgänger quasi im Bandurlaub…
Joris: Ja. Die Arbeit, das Schreiben und Aufnehmen allein in diesem kleinen Räumchen in Berlin hat sicher eine Rolle gespielt. Das war sozusagen die „Rumpelkammer“ gegenüber von dem großen Studio, wo wir 2014 mein erstes Album produziert haben. Es war dieses Mal einfach ein ganz anderer Entstehungsprozess. Ganz zum Schluss kam beispielsweise auch noch der Song „Steine“ dazu und das wunderschöne Gefühl, dass sich am Ende alles irgendwie gefügt hat. Das hatte ich bei den beiden Vorgängeralben nicht. Was ungewöhnlich ist bei mir, weil ich bisher gegen Ende immer etwas nervös wurde und infrage gestellt habe, ob wirklich alles so umgesetzt ist, wie ich es wollte.
Was für Souveränität spricht: Sie haben nur neun ausführliche Songs auf dem Album. Und damit der Versuchung widerstanden, aus Prinzip die CD-Kapazität unbedingt vollsülzen zu müssen… was nicht immer gut ist.
Joris (lacht): Das sehe ich auch so. Tatsächlich hatte ich mir zehn Songs vorgenommen. Aber natürlich viel, viel mehr geschrieben. Jetzt sind es elf Nummern, darunter quasi zwei halbe – also ist der Plan doch erfüllt.
Apropos Yin und Yang, Lennon und McCartney - der Albumtitel erinnert tatsächlich an „Hello Goodbye“ von den Beatles. Andere Songnamen wie „Home Again“ an Michael Kiwanuka beziehungsweise Carole King. Generell gibt es viele Referenzen – ist das alles bewusst passiert?
Joris: An die Beatles habe ich auch kurz gedacht. Bei „Nur die Musik“ ist es ganz offensichtlich, dass da Hommagen an meine Lieblingslieder verarbeitet sind. Vergleiche zu finden gehört natürlich zum Musikjournalismus dazu. Von daher kenne ich die Vergleiche – etwa mit Caspers Stimme oder der Coldplay-Coleur. Dann gibt es auch absurdeste Vergleiche mit Sachen, die ich nicht mal kenne. Unter das Video von „Bis ans Ende der Welt“ hat zum Beispiel jemand kommentiert: „Das ist 1:1 geklaut von einer russischen Kinderfernsehsendung.“ Dann habe ich mir das angehört und tatsächlich die Melodie wiedererkannt und dachte: „Wie zur Hölle hätte ich das raushören sollen, ich habe noch nie russisches Fernsehen gesehen.“ Bei Vergleichen bin ich inzwischen lockerer und finde es schön, mit tollen Musikern verglichen zu werden. Und: Klar denkt man bei „Home Again“ an Michael Kiwanuka. Aber mittlerweile bin ich mit mir selbst und meiner Musik so im Reinen, dass ich weiß, dass ich jemand bin, der für eigene Kreativität steht und das über die vergangenen Jahre auch unter Beweis stellen durfte.
„Untergang“ vermittelt eine Atmosphäre à la Tanz auf dem Vulkan-Vibe, Lebenshunger am Rand der Katastrophe. Diese Art von Inhalt hört man seit K.I.Z.s „Hurra die Welt geht unter“ immer häufiger. Ist das das Lebensgefühl Ihrer Generation?
Joris: Was bleibt uns anderes übrig, als nach einem Jahr Pandemie, in der wir immer noch mittendrin sind, in all dem Schlechten auch etwas Gutes zu finden?
Was war so etwas Gutes für Sie?
Joris: Ich habe in den letzten Monaten ziemlich viele Songs geschrieben. Für mich war es ein totales Glücksgefühl, zu merken, dass es trotzdem noch so viel zu erzählen gibt. „Nur die Musik“ ist das beste Beispiel. Weil ich vorher nie darüber nachgedacht habe, einfach mal eine Hommage an die Musik zu schreiben. Das macht mich happy und ein Stück weit gelassen.
Inwiefern?
Joris: Weil ich weiß, dass die großen Emotionen natürlich zu meinen Songs und zur Musik generell dazugehören. Wie bei meinem ersten Album, auf dem es viel um Herzschmerz ging. Aber es gibt auch so viele andere Themen. Wenn man „Untergang“ mit der Reverse-Brille betrachtet, also thematisch umdreht, tut sich eine ganze Welt auf, die man beschreiben kann.
Von jungen Leuten, die nicht so gefragt auf Partys und im Club sind?
Joris: Ich habe mich selbst früher ganz oft so gefühlt. Ich habe definitiv nicht immer zu den „coolsten Kids“ gehört. Das kennt wahrscheinlich jeder Mensch, dass man auch mal auf der Verliererseite steht. Das trotzdem zu feiern, ist etwas, das sicher allen guttun würde.
Wie lief es denn bislang beim selbsternannten „Unkool & The Gang-Mitglied“ Joris und den Frauen? Das tieftraurige Lied „2017“ klingt zum Beispiel nach einer eher schmerzhaften Erfahrung…
Joris: Eigentlich lief es acht Jahre lang sehr gut. Ein Teil meiner langährigen Beziehung war vor meiner Zeit in der Öffentlichkeit. Irgendwann ging sie dann aber in die Brüche. Da waren zu viele Reisen, die ich machen durfte, konnte, musste… natürlich bin auch hier und da ein bisschen hochgeflogen und daran ist es letztlich zerbrochen. Wir sind aber nach wie vor befreundet. Das finde ich sehr, sehr schön. Das wünsche ich allen, die lange Zeit in einer Beziehung waren – denn das hatte ja seinen Grund, wieso man den Weg so lange gemeinsam gegangen ist.
Auch das eigentlich fröhliche, mit leichtem New Orleans-Sound versehene „No Drama Song“ flirtet mit so einer Mixtur aus Partygefühl und Unbehaustsein. Die Yin- und Yang-Polarität zieht sich also auch durch die einzelnen Lieder. Hat sich auch das einfach ergeben?
Joris: Ja. Ich habe vor zwei Jahren das Rauchen aufgegeben und gemerkt: Hm, jetzt werde ich langsam auch erwachsen und kann nicht mehr jeden Abend unterwegs sein. Zumal die ersten Freundinnen und Freunde Familien gegründet haben und plötzlich keine Zeit mehr für spontane Treffen hatten. Sondern Termine „irgendwann im Mai“ vorschlugen. Irgendwann habe ich aufgehört, mich zu wundern, warum alle so erwachsen und ernst geworden sind. Das ist das Charmante an „No Drama Songs“, in dem man auf die alten Bilder schaut und singt „Warum sind wir so ernst geworden?“.
Der leichte New-Orleans-Appeal und manches Andere verdankt sich Bläsern von der Mannheimer Musikhochschule. Wie kamen sie ins Boot?
Joris: Die sind schon seit dem zweiten Album viel mit mir unterwegs: Garrelt Sieben, sorgt für diese unfassbare Posaunen-Linie in „No Drama Song“, und Trompeter Stephan Udri. Das sind Jazzer durch und durch.
Gibt es noch das Zimmer in Mannheim mit den drei Echos auf der Fensterbank?
Joris: Ich hoffe, allerdings sind meine Echos nach Berlin gewandert. Wir sind nach all den Jahren im November aus unserer gemeinsamen WG ausgezogen. Durch den Lockdown konnte ich ein halbes Jahr lang nicht dahin, da hat es sich nicht mehr richtig gelohnt. Aber ich bin nach wie vor sehr gern in Mannheim und penne dann bei meinen Gitarristen Wolfgang Morenz. Der hält nach wie vor die Stellung. Ich denke mal, das Kapitel Mannheim ist noch nicht final beendet.
Die erste Nummer „Sturm Drang“ vermittelt sehr positives Lebensgefühl, verbunden mit leichten Zweifeln des kindlichen Träumers. Muss man sich als Künstler etwas kindliche Naivität und Offenheit bewahren. Etwa um sich zu trauen, mit 31 zu singen, dass man Mädchen nicht versteht – und dabei authentisch zu klingen?
Joris (lacht): Wobei ich in dem Fall aus der Perspektive meines kindlichen Ichs singe. In der zweiten Strophe nehme ich dann die etwas erwachsenere Sichtweise ein. Aber ich finde wir alle müssen unbedingt diese Naivität, dieses Kindliche beibehalten. Weil uns das am Leben erhält, Visionen und Träume überhaupt erst ermöglicht. Bei all den positiven Seiten des Erwachsenseins: Ich höre zuletzt oft den Satz „Ich bin jetzt angekommen.“ Dabei denke ich mir oft: „Oh Gott, da kannst du dich ja gleich begraben. Das klingt so endgültig.“
Wie kam es zum Duett „Home Again“ mit Lotte?
Joris: Lotte habe ich im Mai 2014 kennengelernt, als ich als Joris losgelegt habe. Ich hatte gefühlt alle Clubs der Republik angeschrieben, um dort spielen zu dürfen. Und ganze drei Antworten bekommen. Eine davon war die Zehntscheuer in Ravensburg. Ein wahnsinnig tolles Haus, das sich um junge, aufstrebende Musikerinnen und Musiker kümmert. Die Leute haben uns behandelt wie echte, große Stars und sie haben gefragt, ob jemand aus der Stadt im Vorprogramm spielen darf. Eröffnet hat dann Lotte, damals 18, und hat unfassbar gut gesungen. Irgendwann hat sie ihre erste Platte in dem Berliner Studio aufgenommen, in dem mein Debüt entstanden war. So haben wir uns wiedergetroffen. 2018 hat sie mich auf Tour begleitet und seit wir die Session „Wer wir geworden sind“ aufgenommen haben, wusste ich, dass wir zusammen wirklich gut klingen. „Home Again“ habe ich geschrieben, als ich frisch verliebt war und mich zum ersten Mal bei jemandem zuhause gefühlt habe. Ich war immer gern unterwegs und auf einmal bin ich nachts nach einem Konzert in Luxemburg noch nach Berlin zurückgefahren, weil ich das so wollte. Die zweite Strophe habe ich selbst nie hinbekommen, fand den Song aber wunderschön. Dann habe ich Lotte gefragt, ob sie Lust hat, die zweite Strophe zu schreiben und mit mir zu singen.
Frauenquote auch im Radio oder auf Festivals und Gendern ganz allgemein sind ein großes Thema. Wie sehen Sie die Entwicklung im weiblichen Deutschpop?
Joris: Ich würde das ungern auf Deutschpop beschränken. Ich finde, dass die Entwicklung in allen gesellschaftlichen Normen und Gegenwarten so ist, dass wir seit vielen Jahren viel über das Thema reden – und trotzdem ist nach wie vor dieser Riesen-Gap zwischen den Geschlechtern da. Das macht mich gelinde gesagt traurig. Da muss einfach viel, viel mehr passieren. Neulich bekam ich in einem Interview die Frage gestellt, ob ich mir eine Frauenwelt vorstellen kann. Das fand ich erstmal absurd: Soll es dann nur noch Frauen geben, oder wie? Dann habe ich für mich die Frage einfach umgedreht – ob ich mir eine Männerwelt vorstellen kann. So ist die Frage gar nicht mehr absurd, weil wir da nach wie vor relativ nah dran sind. Wir müssen uns alle in Gesellschaft und Politik noch sehr bewegen, damit eine wirkliche Gleichberechtigung stattfinden kann. Da sind wir noch lange nicht.
Tatsächlich fehlen an vielen Stellen auch in der Musik weibliche Vorbilder. An der Popakademie haben sich zum Beispiel kaum Bassistinnen und Gitarristinnen angemeldet. Würden Sie dafür Ihre Band umbesetzen?
Joris: Nein, obwohl ich es gut fände. Aber ich habe mit meinen Jungs damals losgelegt und sie sind Teil meiner Familie. Das sind meine Brüder, die werde ich auf keinen Fall ersetzen. Aber wenn die Band größer wird, bin ich auf jeden Fall dafür offen. Ich hatte schon eine Posaunistin dabei, oder für die Reihe „ZDF Bauhaus“ eine Cellistin.
Das Vorgängeralbum „Schrei es raus“ haben Sie mit viel Aufwand und Gefrickel quasi in einer Urlaubssituation produziert. Dabei wurden sogar Teile der Dokumentation „Joris – Ich bin jetzt“ gedreht. Jetzt passierte zwangsläufig viel im Heimstudio – was liegt Ihnen mehr?
Joris: Das hängt wieder von der jeweiligen Zeit ab. Ich bin damals aus drei Jahren Unterwegssein gekommen – ohne Urlaub, immer Interviews, Fernsehen, Shows. Ich hatte damals einfach Bock, mal wegzukommen, meine Familie und Freunde zu sehen. Zum Glück hatte ich dann für eine Zeit dieses Haus in Spanien, wo wir alle abhängen konnten. Das hat gutgetan.
Trotzdem klingen die neuen Sachen für mich weniger verkopft.
Joris: Das würde ich sogar unterschreiben. Die vielen Möglichkeiten bei „Schrei es raus“ führten dazu, dass es etwas verkopft wurde. Das war auch eine Zeit, wo ich noch mehr zeigen wollte, was ich musikalisch drauf habe. Und dass es noch andere musikalische Facetten von mir gibt, als die im Hit „Herz über Kopf“, die die meisten Leute mal gehört haben. Jetzt bin ich mutiger. Und gewisser, dass das Wichtigste der Vibe ist.
Zum Beispiel?
Joris: In „Nur die Musik“ gibt es diese Handyaufnahme aus dem Tourbus. Das hätte ich auf der letzten Platte niemals verwendet. Ich weiß noch, wie ich mit einem befreundeten Gitarristen, der auch an der Popakademie studiert hat, über ein paar Gitarrenaufnahmen gebrütet habe, die ich selbst gespielt und mit einem billigen digitalen Kemper Profiling-Verstärker aufgenommen hatte. Wir saßen in einem riesigen Studio – irrsinnige Kosten, irrsinnige Vintage-Verstärker, die da rumstanden. Und wir haben verzweifelt versucht, den Sound, den ich nachts in meiner Küche aufgenommen habe, 1:1 mit riesigem Aufwand analog zu ersetzen. Er meinte dann irgendwann nur „Genau mein Humor.“ Da habe ich mich dann gefragt: „Was mache ich hier gerade?“ Das hatte dann auch viel mit Frust zu tun, wenn man das Mikrophon wieder zwei Zentimeter verschiebt und es wieder nicht so klingt. Aber das hat immerhin dazu geführt, dass jetzt ein größeres Vertrauen in mich selbst da ist, das Wissen und Gespür dafür: „Diese Situation ist gerade genau das, was man möchte. Hier ist genau das Gefühl in der Luft, das ich für den Song brauche – dann nimm es verdammt nochmal so, wie es ist!“ Dann filtere ich halt die Autobahngeräusche aus der Handy- Aufnahme und nehme die Atmosphäre mit, dass da Leute singen, die gerade die beste Zeit ihres Lebens haben. Das ist doch so viel mehr wert als die Suche nach dem perfekten Sound, wie auf meiner zweiten Platte. Ich liebe „Schrei es raus“ und will sie auf keinen Fall diffamieren. Aber die Erkenntnis „Go with the flow“ war auch wertvoll für mich.
Wie kommen Sie finanziell durch die Corona-Krise? Streaming boomt, „Nur die Musik“ war schon 2020 ein Radio-Dauerbrenner – aber ohne Live-Konzerte bleibt davon vermutlich wenig hängen. Die Zeiten sind ja nicht mehr so, dass man mit zwei großen Hits bis in die übernächste Generation ausgesorgt hat, oder?
Joris (lacht): Leider nicht. Aber ich fände es vermessen, mich zu beklagen. Ich habe hier in Berlin ein Studio angemietet. Auch wenn es nur 250 Euro im Monat kostet, ist das ein Luxus, den ich mir leisten kann. Ich wohne weiterhin sehr gerne in einer WG. Klar tut die Zeit weh. Aber ich mache mir viel, viel mehr Gedanken um die Clubszene und die Leute, die jetzt gerade nicht in Interviews befragt werden. Ich habe viele Freunde in der Gastronomie, die seit einem Jahr nicht öffnen dürfen. Teile meiner Tour-Crew, die mich jahrelang begleitet haben, fahren jetzt Lkw für DHL, um über Wasser zu bleiben. Das kann eigentlich nicht sein. Da müssen wir mehr für Kunst und Kultur sorgen. Gar nicht für Joris und noch größere Namen, sondern für die ganze Diversität der deutschen Kulturlandschaftdahinter.
Einer Ihrer Hits „Du“ ist in einem Werbespot für Amazon Alexa ständig kurz im Fernsehen zu hören. Wenn Sie im Gema-Kurs von Peter Seiler an der Popakademie gut aufgepasst haben, könnte das ja schon zur Beruhigung beitragen…
Joris: Ehrlich gesagt, weiß ich das gar nicht genau. Die entsprechende Abrechnung kommt auch erst noch. Was ich dazu sagen kann: Den Text habe ich mit meinem besten Freund geschrieben, der eigentlich nichts mit Musik zu tun hat. Der promoviert gerade in Theaterwissenschaften und soweit ich weiß, haben die Tantiemen glücklicherweise für die Miete gereicht. Und die Musik hatten wir glücklicherweise für die komplette Band gemeldet, so dass der Song zumindest mal die Toastbrote bezahlt (lacht).
Sie haben schon als Jugendlicher vom Taschengeld für SOS-Kinderdörfer gespendet und sich zuletzt unter anderem in Chemnitz auch politisch positioniert. Das ist zweischneidig in Zeiten von Hatespeech. Vergiftet das Ihr Leben, zumal wir alle in der Pandemie feinnerviger geworden sind.
Joris: Das mit dem politischen Positionieren hatten wir doch in unserem letzten Interview. Musste der „Mannheimer Morgen“ da nicht Kommentare ausschalten? Ob wir dünnhäutiger geworden sind? Ich weiß es nicht. Man muss sich bewusst machen, dass da oft Trolle zu lesen sind, die es gar nicht real gibt. Dass der Gegenwind also gar nicht von so vielen Leuten kommt, wie es aussieht. Um offen zu sprechen: Wenn ich über Musik spreche, muss man über die meisten Sachen auch lächeln oder sie wegstecken können. Und wenn es mal völlig rausgeht, merkt man meistschon an den Rechtschreibfehlern, dass man es nicht besonders ernstnehmen muss. Aber natürlich wird auf vielen Kanälen so schnell so aggressiv kommentiert, dass mir das auf die Nerven geht. Gerade, weil zurzeit so viele wichtige Debatten laufen: Diversität, Geschlechtergerechtigkeit, „Black Lives Matter“, „Fridays For Future“, wie gehen wir mit der Zukunft um? Wir müssen aufpassen, dass wir uns nicht nur mit Parolen zuwerfen. Das bringt keine Seite weiter. Wobei die Verhärtung der Fronten immer stärker wird. Aber: In meinem ostwestfälischen Heimatort Vlotho geht es wegen einer neuen Bahnschnelltrasse rund. Da scheint es aber noch ganz gute Diskussionen und eine Kultur des Zuhörens zu geben.
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