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Mannheim/Düsseldorf. Campino, wir Kinder der 1980er haben überwiegend gedacht, über Aufrüstung, Grenzverläufe oder gar Atomkrieg müssten wir nie wieder nachdenken. Wie geht es Ihnen damit?
Campino: Es ist brutal. Man spürt es überall. Die letzten zwei Jahre waren für uns als Gesellschaft ja ohnehin nicht einfach. Die Leute sind von der Pandemie gestresst und nun auch noch dieser Krieg. Das ist fürchterlich, auch weil man die ganze Zeit so eine Ohnmacht spürt und nicht viel dagegen tun kann. Auf gut Deutsch gesagt: Es sind beschissene Zeiten.
Es fühlt sich an, als ob wir Jahrzehnte lang in einem Wolkenkuckucksheim gelebt hätten – und seit 2015 platzt ein progressiver Traum nach dem anderen. Es wird viel und erstaunlich aggressiv über Pazifismus und offene Briefe aus dieser Richtung diskutiert. Die Hobby-Virologen von gestern sind plötzlich Panzerexperten. Konnten Sie so einfach die Scholzsche Zeitenwende mitgehen und die lange erlernte Grundüberzeugung über Bord werfen, dass die Bundesrepublik nur homöopathisch in Konflikte eingreift?
Campino: Das bringt mich auf den Gedanken, wie vermessen wir alle in den letzten Jahren eigentlich gewesen sind. Kriege gibt es seit Tausenden von Jahren, und genauso lange haben Menschen nichts daraus gelernt. Ich bin letztens in London an einem Haus aus dem 16. Jahrhundert vorbeigelaufen. Schon damals haben sie an der Fassade in den Stein gemeißelt „Nutze die Zeit, du hast nicht so viel, wie du denkst.“ Solche tiefen Erkenntnisse finden sich schon bei den alten Philosophen. Die Vergänglichkeit war uns Menschen ja immer klar. Aber wir lernen daraus trotzdem nicht, dass es für alle besser ist, wenn Frieden herrscht. Es reicht ein machtversessener Typ wie Putin, der ausnutzt, dass die Kräfteverhältnisse nicht gleich sind.
Also müssen wir lernen, dass auch wir Deutschen in der Ukraine mit allen Mitteln helfen müssen, sie auszugleichen?
Campino: Ich musste da auch umdenken. Im Prinzip unterstütze ich eher den Pazifismus, aber ich glaube inzwischen, es muss ein Gleichgewicht der Kräfte geben, damit nicht irgendeine Seite ohne Konsequenzen durchdrehen kann.
Das einzig Positive: Es merken wieder ein paar Leute, wofür die EU eigentlich gut ist: Kaum jemals hat es in Mitteleuropa so lange keinen Krieg gegeben.
Campino: Ich bin ganz Ihrer Meinung. Ich glaube, wenn heute das Brexit-Referendum stattfinden würde, wäre es anders verlaufen. Aber wenn es dem Esel zu gut geht, läuft er aufs Eis. Das erinnert mich an unsere Single „Scheiss Wessis“, die vom Krieg etwas überholt wurde.
Inwiefern?
Campino: Wir haben die Lieder vor drei Monaten mit Marteria eingespielt und uns zusammen darüber amüsiert, welche Klischees und Vorurteile uns zur Wessi-Ossi-Thematik eingefallen sind. Die Befindlichkeiten und Befremdlichkeiten zwischen Ost- und Westdeutschland sind aufgrund der aktuellen Ereignisse aber gar kein Thema mehr. Ich glaube, es gibt im Osten derzeit kaum jemanden, der nicht heilfroh ist, zur Bundesrepublik zu gehören, denn wir bekommen ja gerade vorgeführt, wie es hätte sein können, wenn die Mauer nicht gefallen wäre. Unsere beiden Songs waren vor dem Krieg viel lustiger und provozierender gemeint. Jetzt sind wir eher verhalten, weil wir da etwas beleuchten, das man durch die Entwicklungen auch ganz anders lesen kann, wenn man will. So schnell ändern sich die Parameter.

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Texte altern in den letzten Jahren ohnehin problematisch. Tocotronics völlig anders gemeintes „Pure Vernunft darf niemals siegen“ konnte man auf jeder Querdenker-Demo laufen lassen. Wie geht es Ihnen mit dem Phänomen?
Campino: Es geht natürlich immer um eine selektive Wahrnehmung, um Emotionen. In Europa hat es sich lange so angefühlt, als würde die Welt in Frieden leben, aber das war nie der Fall. In 40 Jahren Die Toten Hosen gab es nicht einen Tag, an dem nicht irgendwo auf der Welt ein Schuss gefallen wäre. Aber viele Kriege haben uns wenig berührt, weil wir dachten, sie seien weit weg. Jetzt ist einer vor der Haustür, und alles sieht anders aus.
Im Nachhinein kann man nur über sich selbst staunen, wie spurlos die schrecklichen Bilder aus Tschetschenien, Georgien oder Syrien an einem vorberauscht sind.
Campino: Das ist mir auch so gegangen: Wieso hat man sich das so unbeteiligt angesehen, ohne große Empathie? Und so sehr das Gefühl gehabt: Naja, die machen das unter sich aus.
Haben Sie nicht manchmal den Impuls, bestimmte Teile des Ostens – Neonazis, Schwurbler etc. - in eine eigene Teilrepublik in der sibirischen Taiga umzusiedeln, damit sie sich mal mit einer richtigen Diktatur beschäftigen können?
Campino: Leute, die man lieber in der Taiga sähe, als in seinem Umfeld, die gibt’s ja überall (lacht). Da trenne ich nicht zwischen Ost und West. Man muss aber auch mit seiner Selbstgerechtigkeit aufpassen. Wir Westdeutschen haben im Umgang mit den Ostdeutschen sicher nicht alles richtig gemacht. Im Grunde kann ich verstehen, wenn einige Menschen im Osten die Wiedervereinigung im Nachhinein empfinden, als wäre die DDR annektiert worden. Von einer gleichberechtigten Wiedervereinigung kann keine Rede sein. Da wurde viel gehobelt und es sind reichlich Späne gefallen. Außer dem Ampelmännchen ist wenig übriggeblieben. Wir Wessis haben sie überrollt, vielleicht nicht in böser Absicht, aber viele haben das in sich reingefressen. Und das ist oftmals auf die nächste Generation übergegangen. Es ist genau das, wogegen sich die Lieder „Scheiss Wessis“ von den Toten Hosen und „Scheiss Ossis“ von Marteria richten.
Kommen wir zum Jubiläumsalbum…
Campino: Darf ich noch kurz dazwischen?
Natürlich.
Campino: Mir ist wichtig zu sagen: Es ist völlig klar, dass 40 Jahre Bandjubiläum mit riesigen Open-Air-Partys, bei denen sich alle auf die Schultern klopfen, nicht dazu führen dürfen, dass man ausblendet, was gerade in Europa los ist. Man kann nicht einfach sein Ding durchziehen, als wäre nichts geschehen. Wir werden im Sommer wahrscheinlich keine komplett sorglosen Konzerte spielen können, wie wir es vorhatten. Denn man nimmt sein Leben und die äußeren Umstände ja immer mit auf die Bühne, und das ist richtig so.
Wenn die Lage einigermaßen erträglich ist: Die 43 Titel auf dem Jubiläums-Sampler „Alles aus Liebe: 40 Jahre Die Toten Hosen“ hören sich an wie ein gutes Live-Set. Das könnten die Toten Hosen genauso am 24. Juli auf dem Mannheimer Maimarkt spielen, oder?
Campino: Vielleicht. Das Album ist der Versuch, unsere Geschichte in Liedern zu protokollieren. Das heißt: Zu jedem Song haben wir uns etwas gedacht, weil wir meinen, dass er zu unseren Schlüsselmomenten gehört. Wir würden ein Set tatsächlich ähnlich anlegen, aber immer auch schauen: Wo spielen wir heute Abend und was ist dort gerade passiert? Wir wollen tagesaktuell bleiben.
Was ist denn bei Ihren zahlreichen Konzerten in Mannheim oder Heidelberg Bemerkenswertes vorgefallen?
Campino: Wir haben in dieser Gegend immer gute Abende gehabt mit großartiger Stimmung von den Leuten. Nur einmal, ich glaube, es war im Mannheimer Capitol, ging es etwas müde zu. Da haben wir hinter der Bühne entschieden, die Feuerwehr anzurufen, um ein bisschen Stimmung in den Saal zu bringen. Das hat ganz gut geklappt, es war die Zeit, in der wir den einen oder anderen Feuerlöscher haben hochgehen lassen, auch später am Abend in den Hotels.
Bandjubiläum wird mit Album und Open Airs gefeiert
- Der nach der Bonbonsorte Campino benannte Sänger der Toten Hosen kam am 22. Juni 1962 als Andreas Frege in Düsseldorf zur Welt. Sein Vater war Richter, seine Mutter, eine Engländerin, Lehrerin.
- Die Toten Hosen wurden 1982 als Nachfolgeband von ZK gegründet. Sie landeten mit zwölf Alben auf Platz 1 der Charts, darunter 2012 „Ballast der Republik“ mit dem Hit „Tage wie diese“.
- Am 27. Mai erscheint das Jubiläumsalbum „Alles aus Liebe: 40 Jahre Die Toten Hosen“ mit 43 Titeln, darunter sieben neue Songs und viele Neueinspielungen.
- Am Sonntag, 24. Juli, gibt es ein Open Air auf dem Mannheimer Maimarktgelände mit Feine Sahne Fischfilet und Thees Uhlmann im Vorprogramm. Karten: 67 Euro (dietotenhosen.de).
Die sieben neuen Songs sind wie „Scheiss Wessis“, „112“, „Alle sagen das“, „Chaot (in mir)“ oder „Teufel“ alles andere als die typischen Feigenblatt-Füller auf Best-of-Alben. Ist es nicht fast schade darum, weil sie auch ein Fundament für ein sehr gutes neues Album hätten sein können? So gehen sie zwischen den Hits womöglich etwas unter.
Campino: Die Gefahr besteht vielleicht. Aber wir wollten keine Lückenfüller auf dieser Platte, sondern in jedem Fall Lieder mit Substanz draufpacken. Also wirklich neue, ernstgemeinte Songs, und kein Kompromissgemauschel. Die neuen Stücke hätten wohl die Basis für ein neues Album sein können. Aber so, wie unser Anspruch ist, wären wir nicht rechtzeitig fertig geworden. Unser Anliegen war eher, dass wir das veröffentlichen wollten, was uns gerade im Proberaum beschäftigt. Sollte es irgendwann nochmal ein neues Studioalbum geben, wird es aus dem Geist entstehen, der dann das Momentum bestimmt. Es könnte unser letztes großes Album werden, so viel steht fest.
Beim Marsch durch den Back-Katalog – haben Sie sich neu verliebt in einen halb vergessenen Song?
Campino: Uns ist eher klar geworden, welche Lieder uns ausmachen. Dann ist es immer ein Abwägen, ob ein Song auf das Album kommt. Am Ende geht es um die Fragen: Wie sehr berührt der Song? Was hat er eigentlich noch für eine Wertigkeit, außer dass es ein nettes Lied war? Was ist ein Muss, was ein Soll und was eher ein „Nice to Have“? Es war sehr interessant, das innerhalb der Band abzugleichen. Die ersten 20 Songs waren absolut identisch.
Obwohl Sie immer gern provoziert haben, sind Sie eigentlich nie bei der breiten Öffentlichkeit voll angeeckt, es gibt keinen Hosen-Skandalsong. Gibt es trotzdem Lieder, die Sie in einer provozierbareren Gesellschaft und den Zeiten von Cancel Culture nicht mehr aus dem Archiv holen würden? Das Kannibalen-Video zur Rap-Version von „Bommerlunder“ wäre wohl kaum noch vermittelbar. Pubertären Klamauk wie „Hofgarten“ kann man sich 2022 auch nicht mehr recht auf der Bühne vorstellen, oder?
Campino: Ja, das ist sicher richtig. Aber wir haben so einen großen Pool von Songs, aus denen wir schöpfen können, dass das nicht ins Gewicht fällt. So etwas wie „Hofgarten“ würde man heute allenfalls noch als Gag bringen, um zu zeigen, wie weit der Weg von damals bis heute eigentlich war. Allerdings gab es 1982 durchaus einen Hintergedanken bei dem Lied. Wir haben das ja nicht nur gesungen, sondern versucht, das auch zu verbildlichen: Schaut her, wir tragen die peinlichsten Klamotten und auch in den Liedern gibt es keine Tiefengrenze des Niveaus. Wir machen das Unterste. Manches kann man heute vielleicht nicht mehr nachvollziehen. Da fällt mir „Ülüsü“ ein. In dem Lied um einen deutschen Jungen, der ein türkisches Mädchen attraktiv findet. Er nimmt sie aber nicht mit zu sich nach Hause, weil er Angst hat, was die Eltern sagen könnten. Die Ironie und wie das Lied zu verstehen war, ist Anfang der 80er Jahre jedem Punk klar gewesen. Heute wäre mir der Text angesichts der Menge von Menschen, die wir erreichen, zu undeutlich. Nicht stark genug definiert. Solche Lieder stehen nicht daher nicht mehr zur Debatte.
Mit großer Reichweite wächst die Verantwortung. Wie sehr spüren Sie im Kreativprozess das Gewicht der musikalischen Volkspartei Die Toten Hosen? Zu Ihren Tourneen kamen zuletzt ja mehr Leute, als die Kanzlerpartei SPD Mitglieder hat?
Campino: Dieses Staatstragende versuchen wir abzuschütteln, weil es grundsätzlich Ballast bedeutet. Da hilft die Erfahrung, dass man sich vernünftig verorten kann. Wir kommen von einer großen Stadion-Tournee nach Hause und am nächsten Morgen stehen wir in der Küche, um Schulbrote zu schmieren. Bloß nicht abheben – das musste man eine Zeitlang für sich erarbeiten, um alles zu sortieren. Aber es ist seit vielen, vielen Jahren verinnerlicht. Wir bilden uns nichts ein, auch weil wir wissen: Von einem Tag auf den anderen kannst du knallhart auf dem Boden landen, und musst damit fertig werden. Diese Hybris zu denken, man wäre etwas Besonderes, das ist so ein Geist aus den frühen 1990ern.
Und beim Songwriting?
Campino: Wenn wir Lieder schreiben, spielt das keine Rolle. Dann sind wir alle zusammen in einem Raum und da herrscht eher kindliche Freude am Entstehen eines neuen Songs. Am Anfang gibt es eine Melodie, dann wird in irgendeiner Geistersprache dazu gesungen und jeder von uns träumt von etwas anderem, in welche Richtung sich das Lied entwickeln könnte. Sobald dann der Text da ist, wird es eine konkret verhandelbare Geschichte. Erst dann kommen Bedenken: Kann man das bringen oder nicht? Will das jemand hören, wie interessant ist das eigentlich für andere? Solche Gedanken kommen also sehr spät, was gut ist. Denn wenn wir schon früh eine Schere im Kopf hätten oder eine Erwartungshaltung bedienen wollten, dann würde das der Musik nicht gut tun.
Im Proberaum nehme ich Ihnen das komplett ab. Aber in Interview-Situationen, kürzlich bei „Lanz“ – da ist Ihnen doch bewusst, dass jeder falsche – oder auch richtige Satz – Schlagzeilen machen kann. Davon kann man sich doch nicht ganz frei machen, oder?
Campino: Da gibt es keine Strategie. Man kann sich kein Verhalten für die Öffentlichkeit zulegen und privat etwas ganz Anderes leben. Das käme irgendwann mal raus und dann fährst du vor die Wand. Bei uns ist sehr deckungsgleich, was wir „privat“ denken und meinen – und was wir in die Öffentlichkeit tragen. Es ist einfacher, wenn man sich nicht ständig kontrollieren muss. Man sagt einfach das, was in einem drinsteckt.

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Für Sie ist 2022 ja ein doppeltes Jubiläumsjahr: 40 Jahre Tote Hosen, 60 Jahre Campino. Graut Ihnen schon vor den Geburtstagartikeln?
Campino: Mein Gott, auch das wird vorübergehen. Ich werde an meinem 60. Geburtstag nicht aufwachen und feststellen, dass alles anders ist. Altern ist ein schleichender Prozess. Und viele der Dinge, die man einem 60-Jährigen unterstellt, sind jetzt schon da (lacht). Was meine Ohren angeht, bin ich vielleicht bei Ende 70 des Normalbürgers angekommen. Klar darf man mal hadern oder jammern, aber das muss die Weltöffentlichkeit ja nicht unbedingt mitbekommen. Wir Menschen sind grundsätzlich alle gut beraten, unser Alter und die eigene Verfassung anzunehmen. Denn es gibt da ja keine Alternative und auch nichts zu diskutieren. Ich denke, je höher die Jahreszahlen sind, desto dankbarer sollte man sein. Bis hierher war der Weg echt verdammt gut! Und problemloser als bei vielen anderen, ich hatte keine schlimmen Krankheiten. Klar, jeder von uns hat Todesfälle im engsten Umfeld erlebt. Das gehört dazu. Aber weinerlich zu werden, das ist undankbar und kindisch.
In „Wort zum Sonntag“ in der „70 ist die neue 60, Ihr Lutscher!“- Version haben Sie ja sehr elegant den Vertrag mit der Bühne bis 69 verlängert…
Campino (lacht): Ja. Ich habe auch darüber nachgedacht, ob ich dazu eine ganz neue Strophe schreibe. Aber das hätte „Wort zum Sonntag“, so wie es verfasst worden ist, beschädigt und etwas relativiert, was nicht relativiert werden sollte. Indem wir die 70 einfach nur so ins Mikrofon nuscheln und dadurch den Refrain anpassen, veräppeln wir uns ja auch selbst ein bisschen. Und ganz nebenbei versuchen wir damit auch, für die Band noch ein paar Jährchen rauszuholen. Das Gegenbeispiel ist das neue Lied „112“.

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Das eigentliche Jubiläumslied, mit den Hosen als Sieger gegen die Zeit. Apropos: Haben Sie eigentlich schon mal gegoogelt, was Mick Jagger für seinen Körper tut?
Campino: Ich habe mich das oft gefragt, aber nicht aktiv danach gegoogelt. Ich weiß auch gar nicht, ob man da ernsthafte Ergebnisse findet. Er ist bewundernswert, extrem fit – und ja: Es würde mich interessieren, ob er wirklich jeden zweiten Tag mit irgendeinem Trainer in einem Tanzstudio steht und seine Übungen macht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir auch nur ansatzweise an das Alter der Stones auf der Bühne herankommen werden. Wobei man ja nicht weiß, ob wir da ein Theaterstück vorgeführt bekommen – was im Rock ‚n‘ Roll ja völlig legitim ist. Wer weiß schon, wie es wirklich um Mick Jagger steht? Man kann ja sehr viel inszenieren. Und im Endeffekt wollen wir doch alle an diese Inszenierung glauben: Die Rolling Stones marschieren immer noch. Ich will auch keinen klapprigen Mick Jagger sehen, sondern denken: Wow, der bringt’s noch. Selbst wenn er danach auf allen Vieren nach Hause kriecht und tagelang massiert werden muss.
Einige der Hosen-Klassiker wurden für das Jubiläums-Album neu eingespielt. Dabei klingt Ihre Stimme oft erstaunlich jung. Liegt das an der Produktion von Vincent Song oder haben Sie noch mehr am Gesang gearbeitet als zuletzt schon?
Campino: Man lernt ja immer dazu, ich zum Beispiel durch verschiedenste Projekte in den vergangenen Jahren. Natürlich verliert man auch Dinge. Ich war mit meiner Stimme zum Beispiel besonders gut, als wir 2015 dieses Projekt „Entartete Musik – Willkommen in Deutschland“ einübten. Da haben wir in Düsseldorf mit dem Sinfonieorchester der Robert Schumann Hochschule gearbeitet und ich musste diese Brecht/Weill-Lieder singen – da war ich nochmal besonders motiviert, alles aus mir rauszuholen. Ich nahm bei einem Professor der Universität Gesangsstunden, weil ich bei der Aufführung auch mit klassischen Tenören singen musste. Das hat mir viel gebracht. Aber wenn du das ein paar Monate lang nicht mehr machst, verlierst Du das Gelernte wieder. Vielleicht liegt es aber auch einfach daran, dass wir inzwischen besser wissen, welche Tonlagen mir gut tun. Früher hatten wir vielleicht noch nicht so raus, wann ich an meiner Leistungsgrenze bin und anfange, nur noch gequält zu klingen. Das berücksichtigen wir heutzutage mehr. Möglicherweise kommt der Gesang dadurch etwas lässiger oder frischer rüber.
Ich habe auf dem Jubiläumsalbum mal wieder bewusst „1000 gute Gründe“ gehört. Kommt Ihnen 34 Jahre nach dem prägnanten Refrain „Es gibt tausend gute Gründe / Auf dieses Land stolz zu sein / Warum fällt uns jetzt auf einmal / Kein einziger mehr ein?“ etwas in den Sinn, mit dem Deutschland Sie stolz macht?
Campino: Deutlich mehr als früher, auch wenn das Land nicht weltbewegend besser geworden ist. Ich glaube aber, dass wir in Deutschland inzwischen weltoffener sind. Durch den Besuch und den Zuzug vieler Menschen aus aller Welt sind wir ein bunterer Haufen und multikultureller geworden. Das hat dem Land sehr gut getan. Und was ich an Deutschland immer mochte, war eine gewisse Zurückhaltung, was Patriotismus angeht – im Gegensatz zu anderen Ländern. Natürlich ist das durch unsere Geschichte bedingt, aber wenigstens diesen Punkt haben wir ganz gut hinbekommen. Und ich begrüße, dass Deutschland vor allem in den vergangen 30 Jahren immer versucht hat, Stabilisator zu sein – also etwas, auf das du dich verlassen kannst. Mit dem Fall der Mauer ist die Bundesrepublik endgültig souverän geworden, dadurch hat sich noch mal viel zum Guten gewendet. Aber ob ich da von Stolz sprechen würde? Es gibt eine Menge Sachen, die ich sehr sympathisch finde. Unter anderem auch – so verhasst der Mann auch gerade sein mag und das wahrscheinlich aus gutem Grund – die Entscheidung von Gerhard Schröder als Bundeskanzler, sich nicht in den Irak-Krieg verwickeln zu lassen. Das gehört zu den historischen Meilensteinen, die Deutschland gut zu Gesicht standen.
Wie wirkt die neue Bundesregierung auf Sie?
Campino: Wenn ich mir Habeck und Baerbock im Fernsehen anschaue, tun sie mir ein Stück weit leid. Ich glaube nicht, dass sie gedacht hätten, so schnell ins eiskalte Wasser gestoßen zu werden. Sie mussten quasi über Nacht die eigenen Grundwerte in Frage stellen. Aber ich finde, dass beide sich tapfer reinwerfen. Insgesamt kann man feststellen, dass sich die Regierung viel Mühe gibt. Die Situation ist extrem angespannt und unübersichtlich, wer möchte wirklich mit ihr tauschen? Aber Urteile über Politiker muss man mit Vorsicht genießen. Das kann morgen schon wieder alles anders sein.
Wie fühlt sich für Sie die Bilanz von Angela Merkel an?
Campino: Alles in allem hat sie uns wohl gut getan. Sie ist eine Pragmatikerin, hat es gewagt, über die Parteilinie oder –philosophie hinauszugehen und zu tun, was sie für richtig hielt. Ich glaube, dass sie als Frau in der Weltpolitik vielem den Wind aus den Segeln genommen hat. Und sie war nicht eitel. Bisher ist es auch erfrischend zu sehen, wie sie sich aus der Politik zurückgezogen hat. Wir haben da schon andere Leute viel, viel unglücklicher agieren sehen, vor allem korrupt. Man kann an Frau Merkel viel gut oder schlecht finden, keine Frage. Es lief ja nicht alles glatt. Aber den Vorwurf der Korruption, dass sie sich selbst durch ihre Position bereichert oder erhöht hätte, den kann man ihr nicht machen. Das ist nach 16 Jahren als Bundeskanzlerin immerhin ein Erfolg.
Ich glaube, dass ihre Art zu regieren auch den Toten Hosen gut getan hat. Merkels Erfolgsrezept, zu entideologisieren und die Unterschiede zwischen den Parteien zu verwischen, dürfte Bands mit eindeutiger Haltung noch erfolgreicher gemacht haben, weil die Menschen Orientierung suchen.
Campino: Das weiß ich nicht. Letztendlich ist es so: Je klarer der Gegner ist, desto besser kannst Du agieren. Merkel hat die Linien teilweise tatsächlich so verschoben, dass es schwer fiel, dagegen zu halten. Stichwort: „Wir schaffen das.“ Man konnte dagegen wenig sagen, es war der richtige Satz zur richtigen Zeit. Uns hat es als junger Band gut getan, klare Feindbilder zu haben. Sobald man älter wird und vieles differenzierter sieht, wird es schwieriger. Man denkt ja lange, mit zunehmendem Alter würde man auch mehr von der Welt verstehen. Aber je älter ich werde, desto konfuser kommt mir alles vor. Weil mir die ganzen Grautöne klar werden und man oft erst durch das Leben lernt: Das, woran du lange geglaubt hast, ist nicht so. Im Guten, wie im Schlechten. Das macht es insgesamt schwer, so hart zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Weil du einfach schon zu oft enttäuscht worden bist, in beide Richtungen.
Hypothetische Frage zum Schluss: Sie schreiben im Begleittext zum Jubiläumsalbum, dass der Hit „Hier kommt Alex“ 1988 der Gamechanger für die Hosen war. Ihr Erfolg stabilisierte sich danach auf hohem Niveau. Wenn es nicht so wäre - würden die Hosen heute noch wie Slime oder ZSK im Weinheimer Café Central spielen oder hätten Sie längst aufgehört?
Campino: Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir aufgehört hätten. Aber vielleicht würden wir nicht besonders häufig auftreten. Als Freunde würde es uns auf jeden Fall geben, da hat das Außenrum nie eine große Rolle gespielt. Da bin ich zuversichtlich. Viele Bands, die sich aufgelöst haben, haben das auch irgendwann bereut und sind wieder zusammen gekommen. Denn wer einmal Blut geleckt hat, und voller Enthusiasmus in einem Club mit eigenen Liedern aufgetreten ist, um danach mit den Leuten zu reden, zu lachen und zu feiern… der wird das wieder haben wollen. Mein wichtigster Termin des Jahres ist das Rebellion Festival in Blackpool, das im August hoffentlich wieder stattfinden kann. Da treffe und höre ich viele Seelenverwandte und Gleichgesinnte. Auch die unbekannteren Bands dort waren uns nicht unähnlich, vor allem in den frühen Jahren. So wie sie würden wir heute auch noch da sein, selbst wenn unsere Karriere kein Erfolg geworden wäre. Das glaube ich schon. Weil es um mehr geht, als die Frage, wie erfolgreich man ist und wie es unbedingt nach vorne geht. Wir würden vielleicht andere Berufe ausüben, das Leben wäre schwieriger. Doch der Moment, in dem man sich im Proberaum anlächelt, weil man einen guten Akkord gefunden hat, ist unbezahlbar.
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