Manche Touristen wissen gar nicht, was sie da im Hintergrund fotografieren. Im Rücken der Kleinen Meerjungfrau, Kopenhagens Wahrzeichen seit 1913, ragt jenseits des Hafens ein markantes Gebäude in die Höhe. Die Form erinnert an einen Keil mit seitlich angeklebtem Schornstein, aus dem es ständig dampft. Die Aluminiumfassade schimmert silbern, als hätte man das Haus mit einem riesigen Fischernetz eingefangen. In dem Klotz verbirgt sich eine Müllverbrennungsanlage. Hier werden 440 000 Tonnen Abfall pro Jahr verfeuert. Die Anlage liegt ganz nahe an der Stadt, weil sie Strom für 30 000 und Fernwärme für 72 000 Haushalte erzeugt. Im Nebenjob fungiert sie als Naherholungsgebiet. Man kann hier Klettern, Wandern und – kein Witz – Ski fahren.
Nachhaltigkeit kann auch Spaß machen
Der Entwurf stammt von Bjarke Ingels. Der dänische Stararchitekt, Jahrgang 1974, ist bekannt für seine schrägen Ideen, verspielten Entwürfe und den speziellen Humor. Eigentlich wollte er Cartoonist werden. Architektur habe er nur studiert, um seine Fähigkeiten als Comiczeichner zu verbessern, erzählt er in einer Netflix-Dokumentation. Ein Gebäude mit verschiedenen Funktionen, das sei die Zukunft. „So ein Projekt kann der Welt zeigen, dass grüne Technologie fast utopische Möglichkeiten bietet“, sagt Bjarke Ingels. Nachhaltigkeit und Hedonismus schließen sich seiner Meinung nach nicht aus. Sein Motto: Think Big. Groß denken. Deshalb heißt seine Firma auch BIG – Bjarke Ingels Group. „Ich sehe Architektur als eine Möglichkeit, Träume in die Realität umzusetzen. Ein Architekt ist ein Schamane mit Steinen und Mörtel“, sagt er in der Netflix- Doku.
Das Kraftwerk liegt im Stadtteil Amager direkt am Öresund. Mit dem in Kopenhagen nicht wegzudenkenden Fahrrad ist man in gut einer halben Stunde aus der Innenstadt hingestrampelt. Der Weg führt durch das Viertel Christianshavn, vorbei an ziegelroten Backsteinhäuschen und Kanälen, durch Birkenwäldchen und Wiesen, bis man in einem Industriegebiet landet. Amager Bakke, der Hügel von Amager, lautet der offizielle Name der Anlage. Spitzname: Copenhill. Der Hügel ist für dänische Verhältnisse gigantisch: 85 Höhenmeter kann man hier erklimmen. Berge sind im Königreich Mangelware. Die höchste Erhebung des Landes, der Møllehøj in Südjütland, bringt es gerade mal auf 170 Meter. Wer Wedeln möchte, muss nach Norwegen oder Schweden oder gleich in die Alpen. Dank Copenhill, im Herbst 2019 eröffnet, ist Wintersport ohne lange Anreise und mit gutem Klima-Gewissen möglich. Für die Idee wurde Architekt Bjarke Ingels mit einem Nachhaltigkeitspreis ausgezeichnet.
Ski fahren bei jedem Wetter – ob mit Schnee oder ohne Auf der Müllverbrennungsanlage wachsen Fichten, Gras und Sträucher, dazwischen schlängelt sich eine 450 Meter lange Skipiste nach unten. Das Dach ist einmal ums Eck gewinkelt und hat eine Neigung von 14 bis 30 Grad. Elegante Schwünge sieht man selten, über die „dry slopes“ – borstige Kunstrasenpisten – rutschen vor allem Anfänger, die Skispitzen ängstlich zum Pizzastück geformt. Die Rampe ist das ganze Jahr über in Betrieb. Anders als in energiefressenden Skihallen wird draußen gefahren, bei jedem Wetter, ob mit Schnee oder ohne. Auf regennassen Matten soll man besonders schnell hinabsausen können. Schnee gibt’s nur, wenn er natürlicherweise vom Himmel fällt. Auf künstliche Beschneiung wird verzichtet. Wer keine Ausrüstung hat, kann vor Ort alles Nötige borgen. Direkt nebenan gibt es einen Skiverleih mit einer großen Auswahl an Skistiefeln, Helmen, Skiern und Snowboards. Die Fachleute behandeln die Bretter mit Silikon statt Wachs. Das gibt Schwung auf der Plastikpiste. Förderbänder und ein Tellerlift bringen die Brettlkünstler nach oben, so wie man es auch aus den Alpen kennt. 150 Skifahrer zur gleichen Zeit sind zugelassen. Ein Skipass für eine Stunde kostet rund 27 Euro. Fußgänger können den Hügel als öffentliches Naherholungsgebiet kostenlos besuchen. Es gibt einen Aufzug zur Après- Ski-Bar auf 85 Meter Höhe. Leider fällt der hin und wieder aus, dann führt kein Weg am Aufstieg vorbei. Oben angekommen muss mancher Wanderer schon fast unters Sauerstoffzelt. Die Mühe lohnt: Auf dem Gipfel lockt ein wundervoller 360-Grad- Blick über die ganze Stadt und über den Öresund bis ins schwedische Malmö. Bei der grandiosen Aussicht vergisst man sogar den Gestank. Je nachdem, wie der Wind steht, weht schon mal eine spezielle Brise aus dem Schornstein herüber. Scharfes Gär-Aroma, Geschmacksrichtung Biotonne, drei Monate nicht geleert. Doch keine Sorge: Die Abgasfilter sind hochmodern. Nach Angaben der Betreiber kommt nicht mehr raus als CO2 und Wasserdampf.
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