So schön im Abseits

St. Moritz und das Matterhorn müssen warten. Im Norden der Schweiz will der touristisch viel zu kurz gekommene Kanton Aargau endlich entdeckt werden.

Von 
Nicole Quint
Lesedauer: 
Aarau ist der Hauptort des Schweizer Kantons Aargau und gleichzeitig des Bezirks Aarau. © Thomas Schneider/bildbaendiger.de

Es gibt eine sichere Methode, Schweizer in Erstaunen zu versetzen: einfach verkünden, dass man seine nächsten Ferien im Aargau verbringen wird. Wer bitte entsagt denn freiwillig all den spektakulär schönen Orten, um ausgerechnet in den größten Industriekanton des Landes zu reisen? Viele kennen diesen Teil der Nordschweiz tatsächlich nur als Kulisse vor dem Autofenster.

Wer aber von der Autobahn abfährt, der staunt: Still und grün statt grau und laut ist es hier. Der Aargau ist reich an malerischen Wiesen, lichten Föhrenwäldern, duftigen Weiden und traditionellen Weinbaudörfern. Zu seinen größten Naturschätzen gehören die Hügellandschaft des Ketten- und Tafeljuras im Jurapark Aargau und das Wasserschloss der Schweiz, ein großes Auengebiet, in dem sich die Flüsse Aare, Reuss und Limmat vereinen. Hier fließt mehr Wasser zusammen als im ganzen Rest der Schweiz.

Aargau

Anreise

Mit dem Zug via Basel oder Zürich nach Aarau (www.sbb.ch, www.bahn.de). Im Aargau ist man mit Bahn oder Postbussen unterwegs, www.postauto.ch.

Unterkunft

Limmathof: Vier-Sterne-Haus in Baden mit Thermalbad, DZ/F ab 230 CHF (233 Euro), www.limmathof.ch.

Zum Bauernhof: komfortable, familiengeführte Unterkunft, DZ/F ab 160 CHF (162 Euro), www.zumbauernhof.ch.

Bed&Breakfast Amber Haus: stimmungsvolles Haus nahe der Lenzburger Altstadt, DZ/F ab 100 CHF (101 Euro), www.bnb.ch/1970.

Essen und Trinken

Auf dem schön gelegenen Habsburger-Hügel lässt sich im Schlossrestaurant herrschaftlich tafeln, www.schlossrestaurant-habsburg.ch.

Das Traditionshaus Restaurant Stadtkeller in Bremgarten setzt auf biologische Vollwertküche, www.stadtkellerbremgarten.ch.

Klassische Schweizer Küche im Restaurant Mürset in Aarau, www.muerset.ch.

Aktivitäten

Besonders bekannt ist Aarau für seine bemalten Dachuntersichten und sein Kunstmuseum (www.aarauinfo.ch). Über die Geschichte von Baden, das Habsburger Schloss und die römischen Thermalbäder wissen Stadtführer spannend zu erzählen (www.baden.ch). Schloss Habsburg: Der Stammsitz der Habsburger ist ganzjährig geöffnet, www.schlosshabsburg.ch.

Schloss Lenzburg: wunderschöne Höhenburg, www.schloss-lenzburg.ch.

Allgemeine Informationen

www.aargautourismus.ch, www.myswitzerland.com NQ

Die blitzend-blaue Botschaft des Aargaus lautet: Es gibt hier mehr Biber, Forellen, Eisvögel und Bäume als Fabriken und Gewerbegebiete. Dass der Kanton außerdem auch mehr Klöster, Schlösser und Burgen zählt als Atomkraftwerke, von denen immerhin drei auf seinem Gebiet stehen, liegt daran, dass sich eines der mächtigsten europäischen Adelsgeschlechter einst sehr wohl in dieser Gegend gefühlt hat – die Habsburger. Zusammen mit Teilen des Elsass und südlichen Baden-Württembergs bildete der heutige Schweizer Kanton das Habsburger Hoheitsgebiet Vorderösterreich. Die herrschaftlichen Hinterlassenschaften sind daher im Aargau überaus zahlreich. Dutzende Klöster und Städte wie Baden, Brugg und Bremgarten hat der Clan hier gegründet. In vielen Orten zieren noch Doppeladler, Habsburger-Wappen und rot-weiß-rote Banner die Hausfassaden, und die Stadt Laufenburg lädt alljährlich im Rahmen der „Habsburger Wochen“ zu einer kulinarischen Reise durch die Küchen Vorderösterreichs ein.

Die untergegangene Habsburger-Monarchie ist überall greifbar

Nicht nur für Fans der Monarchie ist der 2015 eingeweihte Habsburger Weg eine ideale Möglichkeit, dieses einstige Vorderösterreich wandernd zu entdecken. Zum Zentrum der Macht, der namensgebenden Habsburg, geht es an Feldern, Streuobstwiesen und silbrig schimmernden Rebhängen vorbei den Wülpelsberg hinauf. Vom oberen Geschoss des Turms aus können Besucher einen fantastischen Weitblick genießen. In den anderen Räumen genügt die Sicht auf roh behauene Bruchsteinwände, hohe Säle und unverglaste Fenster, um zu verstehen, weshalb die adligen Herren regelmäßige Abstecher nach Baden zu ihrer Lieblingsburg Stein machten. In den heißen Quellen der Stadt konnten sie sich schnell aufwärmen. Bereits die Römer hatten dort große Thermalanlagen errichtet. Aquae Helveticae, die „Helvetischen Wässer“, nannten sie den Ort, der sich später bei den Habsburgischen Herzögen so großer Beliebtheit erfreute, dass sie im 13. Jahrhundert Europas Könige, Kirchenfürsten und Gelehrte zum gemeinsamen Planschen einluden. Eine dritte Blüte als Weltkurort der Belle Époque erlebte die Stadt im 19. Jahrhundert. Doch der Erste Weltkrieg setzte der ganzen Bäderherrlichkeit schließlich ein Ende. Mit einem von Stararchitekt Mario Botta entworfenen Wellnesskomplex soll jetzt die Neubelebung von Badens tausendjähriger Bädertradition gelingen. Die über 4000 Quadratmeter große Anlage wurde Ende 2021 eröffnet und trägt den Namen „Fortyseven“, denn 47 Grad heiß ist das Wasser, wenn es den Thermalquellen entspringt. Während die einen in Bottas Badeparadies blubbern, gehen die anderen von Bremgarten aus auf dem Reuss-Uferweg dem nächsten Höhepunkt entgegen – dem Kloster Muri. Graf Radbot, Erbauer der Habsburg auf dem Wülpelsberg, und seine Frau Ita stifteten den Klosterbau und liegen im Kirchenschiff begraben. Die meisten Besucher zieht es jedoch weiter in den ehemaligen Nordflügel des Kreuzgangs zur Loreto-Kapelle. Hinter dem fröhlich blauen Altar der Kapelle steht, für die Betrachter nicht sichtbar, eine schwarze Marmorstele. Darin: die Herzen des letzten Habsburger Kaiserpaares Karl I. und Zita. 1916, mitten im Ersten Weltkrieg gekrönt, zwei Jahre später ins Schweizer Exil getrieben und im Verbannungsort auf Madeira mit nur 35 Jahren gestorben. So lautet die Kurzfassung von Karls Regentschaft. Das kaiserliche Herz wurde bei der Einbalsamierung entnommen und soll seine Frau Zita 67 Jahre begleitet haben – bis ins Schweizer Altersheim im Bündner Rheintal, wo sie 1989 starb. Ihr Körper ruht in der Wiener Kapuzinergruft, ihr Herz in Muri. 28 Generationen nach den ersten Habsburgern endeten die Wege der Herrscherdynastie mit Karl I. und Zita wieder dort, wo alles angefangen hatte – im Aargau. Und der soll nach Schweizer Maßstäben ein Durchschnittskanton sein. In anderen Ländern bieten viel gepriesene Touristenorte weit weniger auf, um Begeisterung auszulösen. Ein Lieblingsziel für Massen wird der Kanton hoffentlich nie, aber er ist ein guter Grund, seine Reisegewohnheiten zu überdenken und in den Aargau zu fahren.

Copyright © 2025 Mannheimer Morgen