Schmatzend versinken die Schuhe in triefnassen Moorwiesen. Braunschwarze Sprenkel bleiben nach jedem Schritt auf den Hosenbeinen zurück. Aufgescheuchte Vögel flattern davon. Nur eine Feldlerche verharrt im Standflug über den Köpfen der Wanderer und bringt ihnen ein Ständchen. Kein Haus, kein Asphalt, keine Stromleitungen und keine anderen Menschen, und nachdem die Lerche zu singen aufgehört hat, auch keine Geräusche mehr. Alles Möwengeschrei verliert sich unhörbar in den Tiefen der Steilklippen, und selbst dem Atlantik hat ein windstiller Sommertag den Ton abgedreht. Erris Head heißt dieser Ort, hoch im Norden der Mullet-Halbinsel im County Mayo gelegen, der sich wie kaum eine andere Gegend Irlands für den Titel „terra nullis“, Niemandsland, qualifiziert. Die einsamste und vielleicht auch stillste Ecke des Landes ist für viele Städter nur schwer zu ertragen, denn in dieser menschenleeren Moor- und Heidelandschaft regieren Meer und Wetter, nicht Internet und Smartphone.
Gemäß einem Bericht der Europäischen Umweltagentur gelten gerade einmal 18 Prozent der Flächen Europas noch als ruhig, Erris Head aber ist der Gipfel der Ruhe und Einsamkeit. Nur mit einigen Schwarzkopfschafen, die ringsherum wie Flusen auf einem Teppich liegen, muss man sich das Panorama des Ozeans teilen. Die Gesteinsformationen entlang dieser Küstenlinie sind vor rund einer Milliarde Jahre entstanden und gehören zu den ältesten in Irland.
Irland
Anreise Von Stuttgart fliegen Lufthansa (www.lufthansa.com) und Swiss Air (www.swiss.com) via Frankfurt und Zürich nach Dublin. Einige Reiseveranstalter und Fluggesellschaften bieten günstige Fly&Drive-Angebote an, z. B. www.echtirland.de.
Unterkunft Im B&B Drom Caoinvon Máirín und Gerry Murphy erwarten einen fröhliche Gastfreundschaft und üppiges Irish Breakfast. DZ mit Frühstück ab 106 Euro, www.belmullet-accommodation.com. Das Vier-Sterne-Haus The Talbot Hotel im Zentrum Belmullets bietet schicke Zimmer, ein preisgekröntes Restaurant und eine stimmungsvolle Bar. DZ/F ab 150 Euro, www.thetalbothotel.ie. Eine große Auswahl an Ferien-Cottages findet sich unter www.cottage-irland.de und www.shamrockcottages.co.uk.
Aktivitäten Wanderungen: Der rund fünf Kilometer lange Erris Head Loop Walk führt über grasbewachsene Pfade durch die beeindruckende Küstenlandschaft und belohnt mit spektakulären Aussichten auf den Atlantik für alle Anstrengungen. www.northmayo.ie. Bootstouren: Hochseeangler, Taucher und Tagesausflügler sind bei Skipper Sean Lavelle genau richtig, um die Schönheit der Mullet-Halbinsel auf und unter Wasser zu erkunden, www.belmulletboatcharters.com, www.facebook.com/lavelleboatcharters
Allgemeine Informationen www.visitbelmullet.ie, www.ireland.com
Ein besonderer Teil der faszinierenden Geologie von Nord-Mayo ist in der Ferne zu erkennen, wo eine markant gezackte Inselgruppe ihre Felsspitzen in einen tiefer gelegten Himmel bohrt. Es sind die Stags of Broadhaven, die je nach Perspektive mal an das Opernhaus in Sydney, mal an ein prähistorisches Seemonster erinnern.
Die anderen Zacken, die sich gelegentlich in der Broadhaven-Bucht erspähen lassen, sind die öligen, grauschwarzen Rückenflossen der Riesenhaie. Lang wie ein Bus, mit einer Leber im Format eines Mittelklassewagens und einem Gehirn kleiner als ein Apfel, aber mit einem Maul, das einen Menschen am Stück verschlingen könnte, jagte der zweitgrößte Fisch der Erde irischen Fischern einst gewaltige Angst ein, bis sich herausstellte, dass er sich ausschließlich von Plankton ernährt und absolut harmlos ist.
Seitdem gibt es das gälische Sprichwort „As tranquil as a basking shark – so ruhig wie ein Riesenhai“, das die gelassene und gutmütige Natur des Giganten beschreibt. Mayos Lokalzeitungen berichten von Begegnungen zwischen Tauchern und Riesenhaien, und wenn der Radiosender nach den Verkehrsnachrichten eine Hai-Sichtung vermeldet, macht sich alles auf den Weg. Menschenmassen kommen an Mayos Küste dann trotzdem nicht zusammen. Mayo, durch Moore und Bergketten vom Rest Irlands abgeschieden, ist eine der am dünnsten besiedelte Regionen Irlands. 23 Einwohner pro Quadratkilometer stehen in Deutschland vergleichsweise 230 Einwohner pro Quadratkilometer gegenüber.
Diese Abgelegenheit Mayos verdankt Belmullet das Überleben seiner Kleinstadtatmosphäre. Weltweit tragen Einkaufsstraßen einen Einheitslook aus immer gleichen Mobilfunkshops, Modeläden und Drogerieketten. In Belmullet ist die „corporate anonymity“ noch nicht eingetroffen. Paula Murphys Blumenlädchen, die Bäckerei An Builin Blasta und die Metzgerei der Sheridan-Brüder – alles alteingesessene Familienbetriebe, die das knapp 1000 Einwohner zählende Städtchen zum Einkaufszentrum der Mullet-Halbinsel machen. Hier ist alles zu haben, von Toilettendeckeln über Torfbriketts, hausgemachtem Sodabread und glücklich gelegten Eiern bis zu den sonnengetrockneten Algen-Chips aus Mary Conroys Gemüseladen, und gratis obendrauf gibt es noch ein Gespür für den Gemeinschaftssinn, den sich die Menschen Belmullets bewahrt haben. Abends im McDonnell’s Pub diskutieren sie über das letzte Spiel von Mayos Gaelic Footballteam, über Politik und den Schafzüchter aus Westport, der den Wettbewerb zum „Farmer des Jahres“ gewonnen hat; und Touristen versorgen sie hier mit Tipps zu allem, was sie für sehenswert halten. Das Blacksod Lighthouse an der Südspitze Mullets zum Beispiel oder den Brunnen der Lokalheiligen Deirbhile, denn wer sich dreimal durch das enge Fenster des nach ihr benannten Kirchleins windet, wird fortan vor dem Schicksal des Ertrinkens bewahrt sein. Und wohin sonst noch? In die Natur, natürlich. Die größten Attraktionen der Mullet-Halbinsel sind Berge, Moore, Strände und ein Himmel ohne Anfang und Ende. Wer in dieser Landschaft sitzt, Sturmtaucher, Wachtelkönige und manchmal sogar Schnee-Eulen beobachtet, gerät mühelos in den gelassenen Gemütszustand eines Riesenhais.
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