Holzhäuser wie in der Taiga

Die Siedlung Alexandrowka ist ein Stück Russland in Potsdam mit einer mehr als kuriosen Entstehungsgeschichte.

Von 
Jochen Müssig
Lesedauer: 
König Friedrich Wilhelm III. von Preußen ließ die russische Kolonie Alexandrowka in Potsdam 1826/1827 für eine Gruppe russischer Sänger anlegen. © imago/Joko

In Haus Nr. 1 wird aufgetischt: Es gibt Borschtsch, diesen gehaltvollen Rote-Bete-Eintopf, und danach noch Bœuf Stroganoff. Russisch. Deftig. Viel. Da darf ein Wodka natürlich nicht fehlen. Glücklicherweise gibt es ihn im kleinen 2-cl-Schnaps-Gläschen statt in einer Stopka, also dem in Russland durchaus üblichen Glas mit 100 Millilitern. Also: „Na zdarovje!“– „Zum Wohl!“

Später am Nachmittag bringt Olga, wie alle ihre Kellnerkolleginnen in der Alexandrowka eine gebürtige Russin, in Haus Nr. 2 Tee aus dem Samowar an den Tisch. Aus einem ehemaligen Stallgebäude wurde ein Museum mit Café und schönem Garten. Der Tee riecht fein und die Honigtorte dazu sieht verführerisch aus. Aber wieso gibt es dieses Stück Russland in Potsdam?

Potsdam

Anreise Mit dem Zug über Berlin nach Potsdam, www.bahn.de.

Unterkunft Nur 350 Meter Fußweg sind es von der Alexandrowka ins moderne 4-Sterne-Hotel Dorint Sanssouci. Die Pool- und Saunalandschaft wird im Moment renoviert. Doppelzimmer ab rund 100 Euro, https://hotel-potsdam.dorint.com. Mehr Urlaubsflair verspricht das Hotel am Havelufer mit Seezugang und hübsch designten Doppelzimmern ab 90 Euro, www.viennahouse.com/de/ hotel-am-havelufer-potsdam

Essen und Trinken Das Haus Nr. 1 in der Alexandrowka bietet deftige russische Küche mit Bœuf Stroganoff oder Kosakeneintopf (Gerichte 12 bis 14 Euro), serviert von russischen Bedienungen, www.alexandrowka-haus1.de. Neue preußische Küche mit deftigen Spezialitäten wie Schweinebauch, aber auch Gemüsemenüs bietet das besternte Kochzimmer, https://restaurant-kochzimmer.de.

Aktivitäten Bootsvermietungen vom Kajak bis zur Jacht, www.marina-am-tiefen-see.de. Das Museum Alexandrowka befindet sich im Haus Nr. 2, geöffnet Di.-So. 10-18 Uhr, Eintritt 3,50 Euro, Kinder unter 14 Jahren frei, https://alexandrowka.de.

Allgemeine Informationen www.potsdamtourismus.de

Die Alexandrowka besteht aus insgesamt 13 Holzhäusern, unweit der Potsdamer Innenstadt und von Schloss Sanssouci gelegen, die 1826 auf Wunsch des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. im russischen Stil erbaut wurden. Vorbild war das Künstlerdorf Glasowo bei Sankt Petersburg. Holzbaukunst ist bis heute die vorherrschende Architektur für die einfachen Bevölkerungsschichten auf dem russischen Lande. Doch in der Alexandrowka ist alles ein bisschen anders. In den von Peter Joseph Lenné entworfenen umgebenden Gartenanlagen - samt Hunderter von Obstbäumen - sollten russische Sänger die passende Atmosphäre für ihre Musik und ihre Muse haben. Lenné war kein Geringerer als der General-Gartendirektor der königlich-preußischen Gärten. Doch wie kamen die russischen Sänger Anfang des 19. Jahrhunderts eigentlich nach Potsdam?

„O bozhe!“ - das sagen die Russen für unser „oje!“ - und Olga beginnt damit ihre Erklärung, die sie pro Tag mehrfach pflichtbewusst aufsagt, obwohl sie doch Kellnerin und keine Touristenführerin ist. „Am 30. Dezember 1812 wurde der Kriegszustand zwischen Preußen und Russland beendet“, führt sie aus. „König Friedrich Wilhelm III. und Zar Alexander I. näherten sich an und so kam es, dass 62 russische Soldaten, die als Gefangene nach Potsdam gekommen waren, als Geschenk des Zaren am königlichen Hof in Potsdam bleiben und einen russischen Sängerchor bilden sollten.“

Nach dem Willen des Königs durften die russischen Sänger nur dann in die Häuser einziehen, wenn sie verheiratet waren. Verstorbene Musiker wurden vom Zaren „ersetzt“. Heute undenkbar: ersetzt. Menschen! Damals schlicht und einfach Realität. Die Häuser durften nicht verkauft und nur in direkter männlicher Linie vererbt werden. Deshalb gingen einige der Gebäude wieder zurück an den König, der sie anschließend an verdiente Feldwebel vergab. 1861 verstarb der letzte Sänger der russischen Kolonie. 1927, also rund 100 Jahre nach der Gründung, waren nur noch vier der Häuser von direkten Nachkommen der Sänger bewohnt. Und 2008 verstarb auch der letzte direkte Sängernachfahre. lga hat mächtig zu tun im Café. Die Honigtorte läuft wie geschnitten Brot, fast alle trinken Tee aus dem Samowar. Und Olga antwortet tapfer auf die Fragen der Gäste. So sagt sie am Nachbartisch: „Lenné entwarf die Anlage in Form eines Hippodroms mit einem Alleensystem, dessen Mitte das Andreaskreuz bildete.“ Das war natürlich eine Ehrerbietung für einen der wichtigsten Heiligen der russischen Kirche, den Apostel Andreas. Nördlich der Kolonie kam am Kapellenberg die Alexander-Newski-Kirche dazu. Sie steht bis heute in rosa Farbe gut sichtbar über den Wohnhäusern, denen ursprünglich Gehöfte angeschlossen waren. Aufgrund seiner Einzigartigkeit wurde das Ensemble 1999 Weltkulturerbe. Denn die Mustersiedlung Glasowo gibt es nicht mehr, weshalb Alexandrowka große Bedeutung für die Architekturgeschichte Russlands erlangte. Die Lennésche Anlage wurde im Rahmen der Bundesgartenschau 2001 rekonstruiert und seitdem sind auch wieder Hunderte alte Obstsorten dort beheimatet. Weitere vier Jahre später eröffnete das Museum in Haus Nr. 2, in dem Olga arbeitet. Die Räume wurden originalgetreu restauriert.

In einem Haus wohnte der Oberbürgermeister

Die anderen Häuser sind heute in Privatbesitz, von außen kaum von 1826 zu unterschieden, innen jedoch mit den üblichen modernen Wohnstandards ausgestattet. Die heutigen Bewohner gehen kaum außer Haus, wenn viele Touristen unterwegs sind. Einer von ihnen war der Potsdamer Oberbürgermeister Jann Jakobs, der während seiner Amtszeit (2002-2018) in einem der Häuser der Alexandrowka wohnte. Olga hat es nicht so gut. Sie lebt in einem günstigen Plattenbau am Stadtrand. Alexandrowka-Häuser sind ebenso begehrt wie teuer.

Die Geschichte der russischen Kolonie in Potsdam wäre sicherlich ein filmreifer Stoff. Sinnigerweise liegt das Studio Babelsberg, das älteste Großatelier-Filmstudio der Welt, nur ein paar Kilometer entfernt. Doch verfilmt wurde bislang leider nichts. Dafür bietet das Freilichtkino der Alexandrowka alljährlich im Sommer russische Filme an.

Freier Autor

Copyright © 2025 Mannheimer Morgen