Gefiederte Glücksbringer

Der Zug der Kraniche ist ein Naturspektakel. Viele Zehntausend Vögel rasten an der Ostseeküste in Mecklenburg-Vorpommern.

Von 
Helge Bendl
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Graukraniche erkennt man an der schwarz-weißen Kopf- und Halszeichnung sowie an der roten, federlosen Kopfplatte, die sich vom Gefieder abhebt. © NABU/G. Nowald

Der wichtigste Tipp fürs erste Date: warme Kleidung und Regenjacke! Dann ist das Warten aufs ersehnte Rendezvous auch bei norddeutschem Schietwetter keine Qual. Der frühe Vogel fängt den Wurm, heißt es, und so mussten alle rechtzeitig raus aus den Federn: Gegen 7 Uhr beginnt, was niemand hier verpassen will.

Als der Himmel dezentes Rouge auflegt, beginnt das Spektakel. Der Ranger vom Naturschutzbund Deutschland, der seine Besucher im Gänsemarsch zur Beobachtungshütte geführt hatte, muss nichts sagen. Das menschliche Geschnatter erstirbt ohne Anweisung – gestaunt wird ohne Worte. Die Kraniche aber verkünden lautstark, dass sie für den Start bereit sind: Steht der Wind richtig, sind ihre Rufe auf dem platten Land kilometerweit zu hören

Mecklenburg-Vorpommern

Anreise Mit dem Zug nach Stralsund, www.bahn.de. Dann wochentags per Bus mit der Linie 304 nach Groß Mohrdorf.

Unterkunft Gäste des Familienhotels Gut Nisdorf an der Boddenküste können für Ausflüge ein E-Auto nutzen. DZ/F ab 157 Euro, https://gut-nisdorf.de/ Am Jachthafen Barhöft liegt das Hotel Seeblick zwischen Stralsund und dem Nationalpark, DZ/F ab 75 Euro, https://www.hotel-zum-seeblick.de/ Auf dem Darß bei Zingst bietet das Hotel Haferland viel Ruhe und eine Gesundheitsscheune mit Sauna. DZ ab 260 Euro, www.hotelhaferland.de.

Aktivitäten Sehenswert ist die Ausstellung des Nabu-Kranichzentrums in Groß Mohrdorf, geöffnet täglich von 9.30 bis 17.30 Uhr. www.nabu.de/tiere-und-pflanzen/voegel/artenschutz/kranich/30500.html

An den Günzer Seewiesen steht das täglich von 9 bis 18 Uhr geöffnete Kranorama. Der Nabu organisiert Exkursionen mit einem Kranich-Ranger zum morgendlichen Abflug der Vögel. Buchung im Nabu-Infozentrum unter Tel. 03 83 23 / 80 54 40. Auch vom Schiff aus kann man die Tiere sehen: www.reederei-zingst.de, www.reederei-poschke.de.

Allgemeine Informationen www.nationalpark-vorpommersche-boddenlandschaft.de, www.auf-nach-mv.de HABE

Ein paar Trompeter geben das Signal zum Aufbruch. Schnell schwellen die Laute an, das vielstimmige Tröten entwickelt sich zu einem gewaltigen Tutti. Dann sind die Kraniche plötzlich am Horizont zu sehen: Erst kommt nur ein Dutzend, danach schreiben die Vögel überall mit ihrem Formationsflug große Vs in den Himmel, am Ende ist es ein gigantischer Schwarm von vielen Tausend Tieren. Sie fliegen von ihren Übernachtungsplätzen in den flachen Boddengewässern zu den abgeernteten Feldern auf dem Festland. Zeit fürs Frühstück!

Im Rheinland gilt der Karneval als fünfte Jahreszeit, an der Ostsee in Mecklenburg-Vorpommern ist es der Kranichzug, der vieles auf den Kopf stellt. Während man sich anderswo schon auf den Winterschlaf vorbereitet, zieht es Naturliebhaber im Herbst in großen Scharen in die Küstenregion westlich der Hansestadt Stralsund. „Es gibt Leute, die planen ihren Jahresurlaub im Rhythmus der Kraniche“, erzählt Günter Nowald. Seit mehr als 25 Jahren leitet er in Groß Mohrdorf das Kranichzentrum des Naturschutzbund Deutschland (Nabu). Das Dörfchen hat weniger als 1000 Einwohner. Im Herbst aber machen hier oft ebenso viele menschliche Tagesbesucher Station – und noch mehr tierische.

Zwar brüten auch in Deutschland gut 10 000 Paare des Graukranichs, doch wenn rund um die Halbinsel Fischland-Darß-Zingst jedes Jahr bis zu 75 000 Kraniche rasten, sind das die Zugvögel aus Skandinavien auf dem Weg ins Winterquartier. Warum die Nomaden der Lüfte am liebsten hier die Ostsee queren, kann niemand genau erklären. Fest steht: So ziemlich alle schwedischen und norwegischen Kranichpaare und ihr Nachwuchs machen im Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft Station, bevor es weitergeht in wärmere Gefilde, nach Spanien und Nordafrika. Mit Rückenwind sind die Tiere über 80 Kilometer pro Stunde schnell.

„Störche wissen instinktiv, wohin sie fliegen müssen: Sie haben einen inneren Kompass. Junge Kraniche lernen alles von ihren Eltern“, erklärt Experte Günter Nowald. Offensichtlich besteht da viel Gesprächsbedarf: Die Vögel scheinen sich ständig zu unterhalten. Neben dem typischen Trompeten gibt es noch viele andere Laute, um zu kommunizieren. Ein Knurren warnt Jungvögel vor Gefahr, bei den Duett-Rufen stehen Männchen und Weibchen eng beieinander.

Noch größer ist das Spektakel nur im Frühling. Dann halten sich die Kraniche zwar kürzer an den Rastplätzen in Vorpommern auf, doch oft lässt sich ihr Tanz erleben. Die Choreografie ist in der Vogelwelt einzigartig: Kraniche springen in die Luft, schlagen mit den Flügeln, rennen im Zickzack, schlagen Haken und drehen sich. Ob im Frühling oder im Herbst: Die Nacht verbringen die Kraniche in den flachen Gewässern des Nationalparks Vorpommersche Boddenlandschaft. Sie bevorzugen Orte, wo sie ungestört ruhen können. Die Lagunen der Ostsee – sogenannte Bodden – sind ideal und in Schutzzonen für den Mensch tabu.

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