Lolli trottet auf die Schlange wartender Lastwagen zu. Neben der vordersten Fahrerkanzel reckt das Lama seinen langen Hals in die Luft und starrt mit den dunklen Knopfaugen durch das Seitenfenster. José, der Fahrer, kurbelt die Scheibe herunter und steckt dem schneeweißen Tier einen Keks zu. „Lolli ist im Parque Nacional Lauca bekannt wie ein bunter Hund“, schwärmt der Trucker, der den Park auf seinem Weg zwischen Bolivien und der chilenischen Küste regelmäßig durchfährt. Er hält der Lamadame weitere Kekse hin und schmunzelt. Lolli zieht den Kopf wieder ein, schüttelt sich, dann marschiert sie zum nächsten Laster.
Vizcachas zu entdecken
Der Lauca-Nationalpark ist das nördlichste Naturschutzgebiet Chiles. Hier, in 4000 Metern Höhe auf dem Altiplano, dem nach Tibet höchsten Plateau der Welt, grasen Lamas, Alpakas und Vicuñas auf saftiggrünen Llareta-Flechten am Rande gleißender Salzseen. Weite Steppen und Sandwüsten breiten sich in Brauntönen aus. Scheue Vizcachas, Verwandte der Chinchillas, blicken aus ihren Verstecken hinter Felsen, straußenähnliche Nandus schreiten durch die Stille. Ab und zu glitzert eine azurblaue Lagune in der Sonne, umwachsen von einem Meer goldener Grasbüschel. Dahinter ragen die Vulkane Parinacota und der rauchende Guallatiri über 6000 Meter in den Himmel. Kaum Menschen, kein Auto. Nur manchmal schaut ein Dorf der Aymara-Indianer mit weiß getünchten Häusern und ebensolchen Kirchen hervor, sie heißen Putre oder Parinacota.
Schon vor mehr als 30 Jahren machte die Unesco diese abgeschiedene Landschaft zum Biosphärenreservat, gemeinsam mit dem angrenzenden Nationalpark Las Vicuñas und dem Salzsee Salar de Surire, der bei Sonnenuntergang rosa erstrahlt.
Gegenüber am Pazifik wacht ein lebendiger Küstenstreifen: die Hafenstadt Arica im Norden, Anleger für Kreuzfahrtschiffe, der beliebte Touristenort La Serena im Süden, dazwischen gemütliche Fischerdörfer und weite weiße Sandstrände. Das lockt Urlauber. Genauso wie die endlosen Wüsten. Sie dehnen sich überall zwischen dem Gebirge und der Küste aus. Wohin man schaut kein Baum, kein Strauch, nur Sand, Stein, Steppe, manchmal ein Säulenkaktus und die Panamericana, die scheinbar schnurgerade durch die Einsamkeit führt.
Flamingos und Salz
Als eines der trockensten Wüstengebiete der Erde erstreckt sich die Atacama über 140 000 Quadratkilometer und ist damit größer als England. Noch während der Militärdiktatur unter Pinochet stand hier in den 1970er Jahren ein Konzentrationslager. Heute ist die Wüste der beliebteste Touristenspot des Staates. Mittendrin: der Salar de Atacama. Chiles mächtiger Salzsee sieht aus wie ein aufgeplatztes Eisfeld. Kilometerweit drücken sich handdicke Salzfladen gegenseitig aus der Horizontalen. In der Lagune Chaxa schnattert eine Flamingokolonie mit Blick auf die Andenkordilleren.
Die Urlauber reisen aus der Oase San Pedro de Atacama an. Die kleine Wildweststadt ist das touristische Zentrum. Morgens, wenn die Luft noch klar ist und die Türen der Lehmziegelhäuser verschlossen sind, spielen Hunde in den sandigen Gassen, schlendern Atacamero-Indianer über die Plaza mit den haushohen Pfefferbäumen und der kleinen Kirche. So muss es gewesen sein, als im 19. Jahrhundert die Handelskarawanen hier durchzogen, auf ihrem Weg von den Hafenstädten zu den Wüstenminen.
Am späten Vormittag, wenn die Sonne die staubigen Gassen erwärmt, erwacht der Wüstenort: Restaurants stellen ihre Stühle auf die Plaza, Touranbieter ihre Werbetafeln in den Staub, Touristen schlendern durch die Gassen. Sie planen den Besuch der Sanddüne im Valle de la Luna, von deren Kamm man hinunter auf das trockene Mondtal, einen ehemaligen See, blickt. „Die Salz- und Felsformationen sind wunderschön. Ich habe meine Frau schon während der Hochzeitsreise hierhergebracht“, erzählt Christian aus Santiago stolz. „Wenn die Sonne das Tal in rote und goldene Farben taucht, fehlen einem einfach die Worte“, ergänzt seine Frau Paola.
Am nächsten Morgen bestaunen die beiden in Mütze und Mantel auf 4300 Metern Höhe die El Tatio Geysire, zwei Autostunden nördlich von San Pedro. Bei Tagesanbruch brodeln heiße Quellen, speien Geysire und Fumarolen meterhohe, Dutzende über 80 Grad heiße Dampffontänen in die Luft – ein spektakuläres Naturschauspiel. Die geschäftstüchtigen Chilenen haben schon vor Jahren versucht, hier Energie zu gewinnen. Zum Glück der Anwohner blieb der finanzielle Erfolg aus, und das Projekt scheiterte. So kommen weiterhin Touristen und sichern die Lebensgrundlage vieler Fremdenführer.
Die braucht man 800 Kilometer weiter südlich, im Fischerdorf Punta Choros am Meeresnationalpark Pingüino de Humboldt, nicht. Dort schwimmen Delfine mit den Fischerbooten um die Wette. In eiskaltem Wasser. Auf dicken Felseninseln watscheln Pelikane neben Kormoranen, brüten Hunderte von Humboldtpinguinen.
Streit um Vögel
„Früher haben wir uns mit Peru um die Vogelkolonien gestritten. Jeder wollte sie auf sein Territorium locken, denn die Fäkalien der Vögel waren als Dünger ein Vermögen wert“, erklärt Bootsführer Gustavo und manövriert seinen Kahn mit 20 Urlaubern in roten Rettungswesten möglichst nah durch die peitschenden Wellen. Die Passagiere jubeln. Die Vögel nehmen es gelassen, hat doch seit Jahren kein Mensch ihre Insel betreten. Man überlässt den Tieren ein weiteres Stück wilder Natur in Chiles atemberaubendem Norden.
Tipps und Adressen
- Anreise: Zum Beispiel mit KLM ab Frankfurt nach Santiago de Chile.
- Gruppenreisen: Wikinger Reisen hat eine 20-tägige Wanderreise u.a. durch den Norden Chiles im Programm (ab 4348 €, Tel. 02331-904741, www.wikinger-reisen.de). Studiosus bietet eine 18-tägige Studienreise nach Chile (ab 6890 €, Tel. 00800-24022402, www.studiosus.com), Gebeco führt bei einer 15-tägigen Erlebnisreise durch den Norden(ab 4395 €, Tel. 0431-5446748, www.gebeco.de).
- Übernachten: In Putre hat das Hotel Q’antati hübsche Zimmer (ab 50 €, www.hotelqantati.blogspot.de). Für ein paar ruhige Tage am Meer eignet sich das Marea Alta in Punta Choros (ab 67 €, www.marealta.info).
- Allgemeine Informationen: www.chile.travel
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