Sandige Wege und ein Fort

In Nordindien finden sich in der Wüste Thar Orte, die vergessen wirken. Doch inmitten all dessen trifft man Menschen, die ein modernes Leben führen. Zu Besuch in Rajasthan, einem Bundesstaat mit vielen Gegensätzen.

Von 
Nicole Adami
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Das Junagarh Fort in Bikaner ist ein echter Besuchermagnet. Der Stadtpalast gilt als einer der schönsten Orte ganz Indiens. © istock/Meinzahn

Wenn ich mit dem Pinsel arbeite, wird für mich die Vergangenheit lebendig“, erzählt der 24-jährige Künstler Mahaveer. Seit mehr als acht Jahren kümmert er sich in dem kleinen Ort Mandawa im indischen Bundesstaat Rajasthan um die Restauration der reich verzierten Fresken, wie sie an vielen alten Kaufmannshäusern der Shekhawati-Region zu finden sind.

Einst wohnten hier wohlhabende Handelsleute, die sich auf einer wichtigen Teilstrecke der alten Seidenstraße niederließen – jetzt sind die Häuser verfallen. In den Innenhöfen der meist mehrstöckigen Havelis lagerte und schützte man früher die wertvolle Ware vor der enormen Hitze. „Jedes einzelne Wandgemälde erzählt eine Geschichte, ist ein Erlebnis für sich“, schwärmt Mahaveer von seiner Arbeit. „Heute verwenden wir neben den Naturfarben auch chemische Anilinfarben. Die haben einen bläulichen Grundton, haften aber besser“, erklärt er, während er das Bild vollendet – die Arbeit einer kompletten Woche.

Maharaja auf Reisen

Nachdem die Seidenstraße aufgrund des Seehandels komplett an Bedeutung verloren hatte, zogen sich die reichen Kaufmänner aus der Region zurück. Das 1760 gegründete Mandawa ist heute ein verschlafener Ort, sandige Wege und das mittelalterliche Fort im Zentrum verleihen dem Wüstenstädtchen jedoch einen besonderen Charme. Besonders mittags, wenn die Sonne im Zenit steht und die Einwohner in den Innenhöfen Schatten suchen, wirkt der Ort vergessen.

Ist er aber nicht. Maharaja Thakur Kesri Singh ließ sein Fort zu einem stilvollen Hotel umbauen. Zusammen mit seiner Familie wohnt er in dem Gebäudeflügel zwischen Stadt und Innenhof, direkt über dem gewaltigen Eingangsportal. Er stellt sich immer wieder vor, wie das riesige Wüstenfort einst mit Hilfe von Kanonen und dem stabilen Tor mit Eisenspitzen vor den feindlichen Angreifern geschützt werden musste. Doch trotz der Erinnerungen an diese aufregende Vergangenheit, führt der Maharaja mit all den Auslandsreisen und Audienzen ein modernes Leben in Mandawa: „Manchmal kommt mein Sohn, der in Amerika Hotelmanagement studiert hat, zu mir und will dies und das verbessern, renovieren. Dann sage ich ,mach nur’ und weiß, dass in Mandawa Vergangenheit und Zukunft ein Nebeneinander fordern.“ Mit Hilfe der Restaurationen am Fort und im Ort selbst, so hofft er, wird Mandawa irgendwann endlich wieder aus dem Schatten der weiter westlich liegenden Stadt Bikaner treten können.

Bikaner zieht Besucher vor allem mit seinem Junagarh Fort an. Der Stadtpalast gilt als einer der schönsten ganz Indiens. Und doch findet man hier ein äußerst makaberes Motiv, das so gar nicht zu der prunkvollen Palastanlage mit dem von weißen Elefanten flankierten Eingangstor, passt: An den massiven Außenmauern haften nämlich die Handabdrücke der königlichen Frauen – als letzte Erinnerung an ihre Tapferkeit vor der rituellen Selbstverbrennung.

Grausame Sitte

War beispielsweise ein Mann aus einer Fürstenfamilie im Kampf gefallen, opferte sich seine Witwe ursprünglich, um nicht in die Hände der Feinde zu gelangen. Anfangs war die grausame Sitte der Witwenverbrennung als freiwillige Totenfolge gedacht, wurde aber nach und nach zur gängigen Praxis in vielen indischen Religionsgemeinschaften. Auch heute noch erfahren viele indische Mädchen von Geburt an lebenslange Benachteiligung.

Im Gegensatz zum Leben in den Palastmauern ist das Leben außerhalb von Armut bestimmt. Ein unangenehmer Geruch in den Seitengassen deutet auf das spärlich ausgebaute Abwassersystem hin, aber die Teestände an der Marktstraße duften köstlich. An einer Ecke wird Jalebi verkauft, eine indische Süßspeise, die aus siedendem Fett gefischt wird. An anderer Stelle trinkt man frisch gepressten Bambussaft. Massen von Indern drängen sich in der Hitze an den Ständen vorbei, und Rikschafahrer befördern ihre Fahrgäste mit purer Muskelkraft durch die engen Straßen. Auch motorisierte Rikschas gibt es. Nebenher laufen Kinder: „One Rupee, Mista?“ Die vielen Reisenden, die Bikaner jährlich auf ihrem Weg durch Rajasthan besuchen, haben ihre Spuren mehr als deutlich hinterlassen; und trotzdem werden sie aufgrund ihres fremden Erscheinungsbildes stets neugierig begrüßt.

Keimfreier Käse

Am Stadtrand, wo sich das bunte Geschehen beruhigt, liegt die Molkerei Saras, die seit 1976 Milch aus den umliegenden Dörfern verarbeitet. Das indische „saras“ wird mit „schmackhaft“ übersetzt und steht so für den Qualitätskäse und die gereinigte Milch aus dem Betrieb. Kaum ein Reisender verirrt sich hierher, dabei ist es interessant, die indische Verarbeitungstechnik kennenzulernen: Fließband, Greifarm und anderen westlichen Komfort gibt es hier nicht. Jeder Verarbeitungsschritt ist mühevolle Handarbeit. Starke Arme kippen Zehn-Liter-Kannen voller Milch, flinke Hände tunken Pipetten in die Flüssigkeit, wachsame Augen lesen die Qualität ab. Insgesamt 120 000 Liter Milch tragen die 540 Bauern aus der näheren Umgebung täglich zusammen, um sie an Saras zu verkaufen. Geld sehen sie nur, wenn die internen Qualitätsproben positiv ausfallen. In der aufgeheizten Luft liegt säuerlicher Milchgeruch. Und auch wenn keimfreier indischer Käse noch längst nicht dem westlichen Magen bekommen muss, so hält der Molkereiname, was er verspricht.

Noch weiter draußen, außerhalb der Stadt, beginnt die Wüste. Ganz zaghaft zwar, doch werden Dornengestrüpp und Akazien immer weniger, bis sich schließlich nur noch ockergelbe Sanddünen über die Landschaft ziehen. Ruhig liegt sie da, die Wüste. Und wunderschön. Fast ist es, als hätte der junge Zeichner Mahaveer wieder seinen Pinsel geschwungen und mit annähernder Perfektion Sandkorn an Sandkorn gesetzt. Das beste Fortbewegungsmittel ist jetzt eindeutig das Dromedar – heute, wie auch schon in vergangenen Zeiten.

Tipps und Adressen

  • Beste Reisezeit: November bis April.
  • Veranstalter: Gebeco bietet organisierte Touren durch Rajasthan an.
  • Unterkunft: Tolles Hotel im Wüstenfort: Castle Mandawa Heritage Hotel.

 

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