Beschaulicher könnte die Gegend nicht sein. Unter uralten Lindenbäumen haben am sogenannten Lindli in Schaffhausen mehr als 270 Weidlinge ihre Liegeplätze und schaukeln an lauen Sommertagen auf den Wellen des Rheins wie venezianische Gondeln am Canal Grande. In dem Schweizer Kanton gehört der traditionelle Bootstyp längst zum Wahrzeichen der Gegend. Früher dienten die etwa neun Meter langen, flachen Holzkähne noch zum Warentransport und mussten unter Einsatz eines sogenannten Stachels – einer langen Holzstange – flussaufwärts gestoßen werden. Heute sind sie eines der beliebtesten Freizeitfortbewegungsmittel der Einheimischen.
An der zwei Kilometer langen Promenade des Hochrheinufers ist unter schattigen Bäumen an heißen Tagen weit und breit keine Parkbank mehr frei. Nur in der prallen Sonne ist ein Bänkchen nicht besetzt: die knallrote Bootstramper-Bank, mit der unübersehbaren Aufschrift „Boot-Stopp“. Daneben ist ein Schild angebracht, auf dem ein Weidling als Symbol zu sehen ist, und der Hinweis, dass in Privatbooten die Passagiermitnahme gratis und auf eigenes Risiko erfolgt.
„Mir händ kei Plätzli mehr frei!“
Kostenlos durch die sonst hochpreisige Schweiz zu reisen, erscheint einem schon fast als verwegene Idee. Denn selten trampen Leute heute noch, um Geld zu sparen, meist reizt das Abenteuer oder die Hoffnung, interessante Leute kennenzulernen. Also setzt man sich aus reiner Neugierde, was passieren wird, aufs Tramper-Bänkchen. Heute hat man ohnehin nichts mehr vor und trampen im Sitzen, so denkt man, sei bestimmt bequem und ganz nebenher zu erledigen. Welch trügerische Einschätzung.
Dass man hier wie auf dem Präsentierteller sitzt, erweckt aber so schnell kein Interesse. Passanten laufen unbeteiligt an einem vorbei, als handle es sich um eine ganz gewöhnliche Parkbank. So gesehen wäre man bald schon mit einer kurzen Rückfahrt ins Ortszentrum zufrieden. Doch als Nächstes tutet ausgerechnet ein Kursschiff vorbei. Die „Schaffhausen“ ist zum einen viel zu groß, um hier anzulanden, und nimmt natürlich nur zahlende Gäste mit. Bei schönstem Ausflugswetter sind die Außenplätze gut besetzt und die Passagiere tun unweigerlich das, was die meisten tun, wenn sie Leute am Ufer sehen – sie winken. Zum Zurückwinken ist man zu erschöpft, denn bei der Hitze ist das mitgebrachte Wasser längst leer getrunken. Nur gut, dass nebenan ein mobiler Foodtruck seine von Sonnenschirmen beschatteten Tische aufgestellt hat. Die Bedienung bringt einem Ingwerlimo und rät, lieber am Wochenende wiederzukommen, da seien die Chancen auf eine Mitfahrt bei den Freizeitkapitänen am größten. Zwei Jugendliche im Schlauchboot lassen sich indes von der Strömung an einem vorbeitreiben und feixen belustigt herüber: „Mir händ kei Plätzli mehr frei!“ Während man Stunde um Stunde auf der sonnenbeschienenen Bank verbringt und auf eine Mitfahrgelegenheit hofft, beginnt man ganz unweigerlich seine Gedanken in Banalitäten schweifen zu lassen, als sei man Teil in Samuel Becketts absurdem Theaterstück „Warten auf Godot“. Vielleicht reicht ja das Nur-Rumsitzen auf der Bootstramper-Bank nicht. Vielleicht hätte man besser ein Schild schreiben und hochhalten sollen, wohin man eigentlich fahren will. Vielleicht hilft es, mit Rufen und Gestikulieren noch besser auf sich aufmerksam zu machen. Absurde Ideen, denn seit einer gefühlten Ewigkeit ist schon kein Schiff mehr vorbeigefahren, dem man hätte etwas zurufen können.
Was macht ein Tramper auf der Landstraße, wenn ihn keiner mitnimmt? Er läuft. Nur, was macht ein Schiffstramper ohne Schiff? Genau. Er schwimmt. Erst jetzt realisiert man, dass immer wieder Leute in Badebekleidung an einem vorbeigelaufen waren, um von der Uferkante ein paar Treppen hinunter in den Kanal zu steigen und sich vom Rhein zurück in Richtung Schaffhausen treiben zu lassen. Einige ziehen bunte Plastiksäcke hinter sich her, die zunächst aussehen wie Schwimmhilfen, sich aber als wasserfeste Beutel entpuppen, in denen die darin verstauten Utensilien trocken bleiben. Mangels Mitfahrgelegenheit könnte man damit ins Wasser springen, sich zurück nach Schaffhausen treiben lassen und dort in trockene Kleidungsstücke schlüpfen.
Ein traditioneller Weidling hält 20 Jahre
Während man darüber nachdenkt, wo man am schnellsten so einen Plastiksack herbekommt, hat ein Weidling angelegt. Zufall? Der Fährmann, der sich als Pascal Mändli vorstellt, ist Bootsbauer und erzählt, dass seine Familie schon in der fünften Generation Weidlinge und Fährboote herstellt. „Ein traditioneller Stachelweidling kostet um die 10 000 Schweizer Franken (9275 Euro), hält dafür aber auch 20 Jahre“, erzählt er. So lange würde man auch auf einen der Liegeplätze am Lindli warten. Weil sich nicht jeder einen Weidling leisten kann, sei ein Schaffhausener Unternehmer 2011 auf die Idee gekommen, als Mitfahrgelegenheit die Boot-Stopp-Bank aufzustellen.
Unglücklicherweise geht die Fahrt mit Pascals Weidling nur bis ins nächste Dorf vier Kilometer weiter. Wie soll man von hier weitertrampen? Das hiesige Kloster trägt den Namen Paradies und wie zu lesen ist, wurde es um 1250 von Nonnen gegründet, die aus dem Konstanzer Stadtteil Paradies umsiedelten. Heute bietet das ehemalige Klostergut den Rahmen für geschäftliche oder private Feiern.
Gegenüber lockt eine Gartenwirtschaft mit demselben Namen. Die Speisekarte offeriert Paradies-Burger oder Paradies-Plättli mit Fleischkäs und gereiftem Bergkäse aus dem Appenzellerland. Fürs leibliche Wohl ist also auch gesorgt. Paradiese, wohin man schaut. Wer möchte da noch weiterfahren?
Schweiz
Anreise Mit dem Zug von Stuttgart nach Schaffhausen, www.bahn.de.
Unterkunft Kronenhof: familiengeführter Hotelgasthof in der Altstadt von Schaffhausen mit Blick auf die Festung Munot, DZ ab 111 Euro, www.kronenhof.ch. Sorell-Hotel Rüden: prächtiges Zunfthaus aus dem 18. Jahrhundert in der Fußgängerzone, DZ ab 150 Euro, www.sorellhotels.com. Pop-up-Schiff-Hotel: Von Ende Mai bis Anfang September bietet das Sorell-Hotel Rüden auch eine exklusive Übernachtung auf der 1925 erbauten „MS Konstanz“ im Hafenviertel von Schaffhausen an, 241 Euro pro Nacht. Vienna House Zur Bleiche: Designhotel am Hauptbahnhof, DZ ab 210 Euro, www.viennahouse.com.
Aktivitäten Die Tramperbank am Lindli befindet sich in Schaffhausen am Hochrhein auf Höhe der Rheinhaldenstraße 50. In Schaffhausen gibt es ein schönes altes Holzkastenbadi zum Abkühlen direkt im Rhein, www.rhybadi.ch.
Allgemeine Informationen Schaffhauserland Tourismus, www.schaffhauserland.ch, Schweiz Tourismus, www.myswitzerland.com.
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