Bernd Reschke schiebt Lachsforellen in den Räucherofen. „Wir arbeiten hier noch traditionell über dem offenen Feuer“, erzählt der 60-Jährige im kleinen Rankwitzer Hafen in Mecklenburg-Vorpommern. „Nur so können die Inhaltsstoffe des Holzes direkt auf den Fisch übergehen. Das gibt einen intensiv rauchigen Geschmack und dunkles Fleisch. Fast so wie Schokolade.“ Der studierte Fischereibiologe hängt die nächsten Lachsforellen in das Räuchergitter.
Im Hafen von Rankwitz auf der Usedomer Halbinsel Lieper Winkel ist Reschkes traditionelle Fischräucherei ein beliebtes Ziel von Einheimischen und Urlaubern. Hier, im grünen Hinterland der modernen Kaiserbäder Bansin, Heringsdorf und Ahlbeck, wo nur eine Straße durch die Landschaft führt und die Hand voll Dörfer mit ihren 600 Einwohnern seit jeher über Steinbohlen miteinander verbunden sind, kommt noch Fisch aus dem Achterwasser auf den Tisch. Die süße Lagune, die den Lieper Winkel zusammen mit dem Peenestrom umschlingt, ist so flach, dass sich ihr Wasser im Sommer auf 20 Grad erwärmt. Was gut für Segler und Surfer ist, macht den Fischern zu schaffen.
Aal bleibt inzwischen weg
„Früher wurde hier sehr viel Aal gefangen“, weiß Reschke. „Davon konnten die Familien vom Lieper Winkel ganz gut leben. Jetzt bleibt der Aal aber weg. Die wenigen Berufsfischer, die es hier heute gibt, nehmen deshalb auch Zander und Schnepel mit. Wir ergänzen die Palette durch unsere eigene Zucht. In schwimmenden Netzkäfigen draußen im Peenestrom halten wir Lachsforellen, Saiblinge und Störe.“
Schon vor mehr als 400 Jahren war das ehemalige Wald- und Sumpfgebiet Lieper Winkel ein bekanntes Fischerdomizil. Damals konnten die Männer ihre kleinen Orte nur per Boot erreichen. Seit dem Jahr 1187, als die pommersche Herzogin Anastasia die Halbinsel einem Kloster schenkte, hatten die Mönche zwar den Boden nutzbar gemacht, doch keine Anbindung über Land an die Außenwelt geschaffen – die einzige Straße entstand erst Ende des 19. Jahrhunderts.
Abgeschnitten von der restlichen Insel Usedom, fügten sich die Fischer ihrem Schicksal, traten jährlich 20 Kutter ihres Fangs an die Hofküche des neuen Herzogs ab, dafür ließ man ihnen die Früchte ihrer landwirtschaftlichen Arbeit. Bis ins 19. Jahrhundert sah man sie in den traditionellen weißen Leinenhosen, bunten Westen und farbigen Strumpfbändern über die Felder und das Wasser ziehen. Nirgendwo auf Usedom war das Tragen einer Tracht so lange üblich wie auf der abgelegenen Halbinsel. Die Lieper Winkel Danzlüt, eine Gruppe älterer Herrschaften, trifft sich noch immer zum gemeinsamen Trachtentanz.
Heute findet man hier Ruhe und Idylle. Ein Paradies für Urlauber, die in Abgeschiedenheit eine Auszeit von den modernen Kaiserbädern suchen. Auf den weitläufigen Wiesen dösen Simmentaler- und Limousin-Kühe. Am Wegesrand stehen Marmeladengläser zum Verkauf. Ein handbemaltes Holzschild weist den Weg zum einzigen Lebensmittelmarkt. Am Ufer lehnen Dutzende Reusenbohlen wie ein Indianerzelt aneinander, daneben dümpelt ein Fischerkahn im Wasser. Ab und zu lugt ein weißes Segelboot durch die endlos goldene Uferwand aus Schilf-röhricht, ein Seeadler ruf.
2000 Bündel für ein Haus
Auf einer Bauernkate in Liepe, dem Ort, der der Halbinsel ihren Namen gab, näht Reetdachdecker Ralf Betge einen Rohrbund fest. „2000 Bündel brauche ich für ein Einfamilienhaus“, erzählt der 50-Jährige. „Schon im Januar habe ich das Schilfrohr gemäht. Mit der Raupe. Am schwer zugänglichen Uferrand des Achterwassers, allerdings nicht hier“, der Mann in der Latzhose zeigt hinüber auf das andere Ufer. Auf dem Lieper Winkel bleiben die weitläufigen Schilfrohrgürtel das ganze Jahr über stehen – als Brutgebiet für Tafelenten und die habichtartige Rohrweihe.
Betge wischt sich die Stirn. Hübsche Reetdachhäuser mit weißen und himmelblauen Fassaden sprenkeln die Halbinsel und den Ort um die St.-Johannes-Kirche. Der rote Backsteinbau mit dem ebenerdigen Glockenstuhl ist Liepes ganzer Stolz, vor 800 Jahren erstmals erwähnt und das älteste Gotteshaus auf Usedom.
An der Westküste in Quilitz, wo bunte Finnhäuser unter schattigen Kiefern Ruhe und Entspannung suchende Urlauber locken, fand man noch ältere Schätze. 1914 stieß ein Bauer bei Grabungsarbeiten auf mehr als 2000 Silbermünzen. Dazu Goldperlen, silberne Ketten, Ohrringe, Armreifen. Ein Schatz, den die Slawen 900 Jahre zuvor vergruben, als sie von hier aus Handel mit England und den Niederlanden über den Peenestrom trieben.
Ob sie ihre Heimat Lipa nannten – zu Deutsch Lindenort –, weil es hier zahlreiche Linden gab oder zumindest eine Dorflinde als zentralen Treffpunkt, oder um dem Ort eine heilige Bedeutung zu geben – für die Slawen waren Linden heilige Bäume –, bleibt ungewiss.
Doch wer ein Dorf weiter in Warthe zum Sonnenuntergang am Naturstrand sitzt, die Kormorane beobachtet, wie sie auf einem halb versunkenen Schiffswrack spielen, und wer dem Quaken der Wasserfrösche lauscht, wird der Stille dieses Ortes sicher etwas Göttliches abgewinnen.
Im Rankwitzer Hafen holt Bernd Reschke derweil seine Lachsforellen aus dem Räucherofen. „Haben Sie schon mal Blei gegessen?“, fragt er eine verdutzte Kundin. Der Karpfenfisch mit dem Perlmuttglanz fühlt sich im Achterwasser wohl. Nur beliebt ist er nicht. „Wenn wir mal Blei anbieten, dann liegt der hier so wie er heißt: wie Blei“, sagt Reschke.
Blei in Biersoße
Nur die Einheimischen wissen ihn zu schätzen, genießen ihn geräuchert oder legen ihn in Biersoße ein, damit sich die kleinen Gräten auflösen. „Vielleicht kommen die Urlauber ja irgendwann auch auf den Geschmack.“ Reschke klingt zuversichtlich. Dann hätten die Fischer vom Lieper Winkel wieder mehr gefragten Fang in ihren Netzen, denn Bleie gibt es hier zuhauf.
Tipps und Adressen
- Anreise: Mit der Bahn bis Anklam. Von dort fährt die Buslinie 201 in den Ort Usedom und Bus 283 weiter auf den Lieper Winkel.
- Übernachten: Zünftige Zimmer in der Pension Rankwitzer Hof (038372/70563, DZ ab 60 €). Schöne Ferienwohnungen gegenüber im Herman’s Hof (ab 75 €). Stilvolle Ferienhäuser mit Sauna in Quilitz (ab 90 €). Beide buchbar unter http://urlaub-usedom.de.
- Veranstalter: Wikinger Reisen hat eine 8-tägige Aktivreise nach Usedom inklusive Wanderung auf dem Lieper Winkel im Programm (ab 940 Euro, Tel. 02331/ 904742).
- Information: Usedom Tourismus und Tourismusverband Mecklenburg-Vorpommern
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