Ja, es ist die schönste freiwillige Regendusche der Welt: mit dem Ausflugskahn bis auf wenige Meter ran an die 792 Meter breite Wasserwand der Niagarafälle und den Fallwind von 4,2 Millionen Liter Wasser zu spüren, die im Schnitt pro Sekunde 52 Meter in die Tiefe donnern. Trotz Müllsack-Poncho geht's klatschnass, aber glücklich zurück ins Auto und vom Niagara-Parkplatz unweigerlich auf den Niagara Parkway. Diese akkurat gepflegte Landstraße schlängelt sich kilometerweit entlang der grünen Uferpromenade, teilüberdacht durch Bäume, gesäumt von Golfplätzen und weißen Landsitz-Villen à la "Vom Winde verweht". Vor einer solchen flattert die kanadische neben der schwarz-rot-goldenen Flagge. "Reif Wineries" steht auf dem Schild. Mal schauen, ob jemand da ist.
Klaus Reif, Gründer und Boss, öffnet die Tür seines Weinprobiersaals - ein umgebauter Pferdestall von 1873. Reif ist einer von etwa 250 Winzern, die die Landzunge nördlich der Niagarafälle zu einem weltweit angesehenen Weinbaugebiet gemacht haben - in nur 40 Jahren. Chardonnay, Riesling, Gewürztraminer - 16 verschiedene europäische Rebsorten baut er an. "Die muss aber gar nicht kennen, wer in Ontario einen deutschen Winzer identifizieren will", sagt Reif grinsend mit Blick auf den Wuchs der Weinstöcke. "Mir tun die Pfoschte ganz grad reinmache in de Erd", pfälzert er und zeigt auf die militärisch ausgerichteten Pflöcke mit daran gebundenen Reben.
Im mild-orangen Abendlicht entkorkt der 1,93-Meter-Hüne einen Cabernet Merlot 2010 und erzählt, schuld an allem sei Onkel Ewald. Er wandert 1977 aus, der 15-jährige Klaus besucht ihn 1978 und ist sofort so fasziniert von Ontario, dass er Jahre später rübermacht, zwei Wochen nach seinem Weinbau-Examen.
Weil Onkel Ewald seinerzeit nur Trauben züchtet, aber kein Weingut betreibt, schreibt Neffe Klaus ihm einen Schuldschein über 250 000 Dollar auf eine Serviette. Als Gegenleistung lässt Onkel Ewald ihn auf seinem Boden beginnen, damals erst als 14. Winzer dieser Region. Statt Neustadt an der Weinstraße wagt Klaus Reif den Neustart an der Weinstraße - dem Niagara Parkway.
Diese Gegend unmittelbar an der US-Grenze ist in den Achtzigern ein weißer Fleck auf der Wein-Weltkarte, aber mit besten Voraussetzungen, das erkennt Reif schnell: "Lehmig-sandiger Boden, darin gedeihen vor allem Riesling und alle Arten von Burgundertrauben prächtig. Und: Wir liegen auf dem 43. Breitengrad -wie Bordeaux und die Toskana, haben 30 Prozent mehr Sonne als die Pfalz." Ein Umstand, der den Süden Ontarios bis weit in den Herbst hinein zu einem wohlig-warmen Indian-Summer-Reiseziel macht - für Wohnmobilisten, Busreisende und Radwanderer. Worüber sich Reif und seine Winzerkollegen wie Herbert Konzelmann und Gary Pilliteri freuen, denn von jährlich etwa zehn Millionen Niagarafälle-Besuchern biegen Hunderttausende auf ihre Weingüter ab.
Von Weingut zu Weingut kann man sich auf dem Niagara Parkway problemlos weitertreiben lassen, anhalten, fotografieren, auf den grünen Seitenstreifen an Obstständen naschen. Nicht nur der Autoverkehr, das ganze Leben hier verläuft offenbar in Zeitlupe. Auch und gerade in Niagara-on-the-Lake, einst Kanadas Hauptstadt. Heute ein Dorf wie ein Filmset für Historienschinken: bestens restaurierte rote Backsteinhäuser mit Erkern, Veranden und Balkonen aus dem 19. Jahrhundert und Pferdekutschen, in denen Besucher durch die Villen-Ausstellung der Nebenstraßen und wieder zurück gondeln - auf die Picton Street, zum Bummel entlang der wohl höchsten Delikatessengeschäft-Dichte Kanadas.
Klar, dass hier auch die Weine der Region in den Regalen stehen, unter anderem welche mit einem Kirschbaum auf dem Etikett. Pilliteri steht drüber - wie so oft der Name des Gründers. Der 79-Jährige führt strahlend durch sein Reben-Reich, so groß wie 80 Fußballplätze. Nach dem Kauf habe er dieses Gelände gerodet, um Platz zu schaffen für Weinstöcke und Weinkeller, erzählt er. Nur der Kirschbaum mittendrin habe stehen bleiben müssen und sei bis heute das Symbol auf fast allen Pilliteri-Flaschen.
Niagara
Anreise Air France, KLM und United Airlines fliegen günstig ab Frankfurt nach Toronto, Lufthansa auch direkt ab München, Air Lingus von Hamburg via Dublin. Mit dem Mietwagen sind es 130 Kilometer bis zu den Niagarafällen und in die Niagara-Weinregion.
Unterkunft Grand Victorian, Niagara-on-the-Lake, Der Name ist nicht geprahlt für das Bed & Breakfast auf Klaus Reifs Weingut mit 1000 Quadratmeter Wohnfläche. DZ/F ab ca 130 Euro, 15608 Niagara Parkway, Niagara on the Lake, www.grandvictorian.ca Prince of Wales Hotel, ein viktorianisches Rotklinker-Puppenhaus mit plüschigem Interieur. DZ ab ca. 158 Euro. Adresse: 6 Picton St, Niagara-on-the-Lake. www.vintage-hotels.com/princeofwales/ Delta Chelsea, Toronto, solides Ketten-Hotel in der City. Von hier aus kommt man bequem und flott zu allen Toronto-Attraktionen, aber auch in zwei Autostunden zu den Niagarafällen. DZ/F ab ca. 144 Euro. 33 Gerrard Street West, www.chelseatoronto.com
Erleben Verschiedene Radtouren zwischen 12 und 29 Kilometer Länge mit Weinproben und Picknick bietet u. a. "Niagara Wine Tours International" für Preise zwischen ca. 46 und 98 Euro. 92 Picton Street, Niagara-on-the-Lake, www.niagaraworldwinetours.com
Allgemeine Informationen http://de.ontariotravel.net.
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