Das schmucke Dorf in Tirol auf rund 1200 Meter Seehöhe ist beliebt bei Langläufern und Wanderern. Wer nur gemütlich spazieren gehen mag, ist mit dem Talweg entlang des munter murmelnden Gebirgsflusses ebenfalls gut bedient. Auf halber Strecke kommt man an einem verwitterten Schober vorbei. Er ist mit allerlei angenagelten Holzschindeln versehen, die mit rustikal eingebrannter Beschriftung der Stammgästeehrung dienen. Familie K. aus Hamburg, Familie M. aus dem Bergischen und Familie W. aus Belgien haben hier in Sonnenplatzl bereits 60-mal Ferien gemacht, erfährt man. Unglaubliche 60-mal! Doch das ist durchaus nicht der Rekord in Sachen Ortsverbundenheit. Ein Herr Henning B. hat es auf glatte 100 Urlaube gebracht.
Der Stammgast ist der Liebling aller Hoteliers und Verkehrsämter. Ihre Direktoren und Vorstände pflegen diese ortstreuen Urlauber in rührseligen Zeremonien zu ehren. Doch der Stammgast gehört wie der gute alte Verkehrsdirektor zu einer aussterbenden Spezies. In Zeiten schneller Internetbuchungen und zahlloser Weltweitweg-Webseiten wird es zum Ausnahmefall, immer wieder an denselben Ort zu reisen. Der Stammgast ist eine Art nostalgische Referenz an die gute alte Zeit, in der man noch viele Wochen in der „Sommerfrische“ weilte.
Dabei gibt es gute Gründe für die Treue zu einem Ferienziel. Menschen mit extremer Arbeitsbelastung wissen um die Vorteile der stressarmen Rückkehr zum Bekannten. Kanzler Kohl etwa hat über 30 Jahre hinweg seine Sommerferien in St. Gilgen am Wolfgangsee verbracht. Er blieb drei bis vier Wochen in stets demselben Haus, gabelte in derselben Konditorei solide Kuchenstücke, etwa die nach ihm benannte „Kanzlertorte“. Im Vergleich zu Kohl ist Angela Merkel geradezu hochflexibel. Sie hat gleich drei Lieblingsziele: die Inseln La Gomera und Ischia sowie das schöne Südtirol. Bei der Art ihrer Ferienbeschäftigung ist sie allerdings konsequent. Sie wandert mit Gatte und Bodyguards. Immer und überall. Auch der französische Präsident tendiert zur Ortstreue, was allerdings daran liegt, dass sich die Grande Nation am schönen blauen Mittelmeer eine alte Burg als Feriendomizil von Staats wegen leistet. Die wehrhafte Feste erhebt sich auf einem mit nur einer Fahrspur ans Festland angebundenen Eiland. Sicherheitstechnisch eine perfekte Wahl, weshalb die Côte du Var seit de Gaulle praktisch alle Landesväter begrüßen durfte.
Die Treue zum ewig gleichen Urlaubsort hat unschätzbare Vorteile. Schon bevor man abreist, weiß man genau, was einen erwartet und worauf man sich freuen darf. Es gibt kein Eingewöhnen, kein mühsames Sich-vertraut-Machen mit fremden Örtlichkeiten. Der Urlaub fängt viel mehr unmittelbar mit der Ankunft an. Oder bereits vorher im Kopf, weil die Szenerie ja bereits feststeht. Spätestens nach der fünften Buchung ein und desselben Ferienobjektes spricht man daher von „unserem Haus“, obwohl es sich klar um ein für bescheidene zwei Wochen im Jahr angemietetes Gemäuer handelt. Man weiß auch genau, was man einpacken muss: den noch immer vor Ort fehlenden Haartrockner, den Mückenvorhang fürs Schlafzimmerfenster, die Kombizange, falls es Probleme mit der Haustechnik gibt. So gewappnet kann nichts schiefgehen. Man kennt bereits die besten Restaurants im Dorf und weiß, wann und wo Markttag ist und welche Weingüter die besten Tropfen zu akzeptablen Preisen bieten.
Repräsentative Umfragen behaupten, dass bei deutschen Urlaubern zu den vordringlichen Wünschen an die „schönsten Wochen des Jahres“ die Lust auf Abenteuer, auf Begegnungen mit fremden Kulturen und auf authentische Erlebnisse mit Einheimischen stehe. Derlei Postulate sind mit Vorsicht zu genießen. Wie sonst könnten Restaurants in Spanien sich großer Beliebtheit erfreuen, die „Wurstl con Krauti“ auf der Karte anpreisen. Oder Ferienhäuser, die damit werben, dass das TV-Gerät alle deutschsprachigen Programme empfange. Das Fremde wird oft nur erträumt, das Vertraute am Ende dann doch eher gewählt.
Schwierig wird die Angelegenheit mit der Wiederholung des Vertrauten, wenn man zu lange zwischen zwei Ferien am selben Platz pausiert. Denn dann kann plötzlich alles anders sein. Die kleine Kneipe, wo man immer das erste Bier der Ferien getrunken hat, ist nicht mehr da. Das Hotel liegt nicht mehr einsam, sondern neben einer Großbaustelle für weitere Touristenunterkünfte. Die Liegen am Strand kosten auf einmal doppelt so viel wie einst.
Ein Bekannter erzählte einmal von seiner wunderbaren Hochzeitsreise in den Süden einer der größeren Kanareninseln und fügte hinzu, dass er niemals, wirklich nie und nimmer, noch einmal dorthin zu reisen gedenke. Nicht etwa, weil sich die Eheschließung als Fehler entpuppt hätte. Er ist nach wie vor glücklich verheiratet und Vater zweier großer Töchter. Doch die schlichte Tatsache, dass sich die Zahl der Unterkünfte vor Ort seit seinen Flitterwochen verhundertfacht hatte, ließ ihn zur Überzeugung kommen, den Zauber der Erinnerung nicht durch die Realität der schnöden Gegenwart zu zerstören. Manchmal muss man es eben schlicht bei der Einmaligkeit belassen.
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