Es ist schon halb zehn am Vormittag, aber Pacer trottet immer noch müde vor sich hin. „Komm, Kumpel“, versucht Julie ihn anzutreiben, „die Aussicht ist wunderschön!“ Auch der märchenhafte Blick durch den sonnendurchtränkten Wald kann ihn nicht aus seiner Lethargie holen. Ein Klaps auf die Flanken hilft schließlich. Pacer gehört zu den gut 60 Wallachen der Brewster Horse Ranches hier in Lake Louise, dem zweitgrößten Ort im Banff Nationalpark.
Die Geschichte der Pferdeställe geht bis ins Jahr 1886 zurück, als der Milchfarmer John Brewster und seine Kinder eine Poststation mit Kutschenservice aufmachten und sich einen guten Ruf als Führer durchs Hinterland erwarben. Nun führt Johns Ur-Ur-Ur-Enkelin die Ranch. Auf eine lange Familientradition sind sie besonders stolz hier, in einer Region, wo vieles erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstand.
Und Julie? Julie wusste bis vor ein paar Wochen nicht, wo Lake Louise genau liegt. Sie stammt aus Brüssel, hat kürzlich ihren Abschluss in Psychiatrie gemacht und nimmt sich ein Jahr Auszeit in Kanada. Hier bei den Brewsters ist sie hängengeblieben, die Schönheit der Natur ließ sie nicht mehr los. Jetzt jobbt die Hobbyreiterin als Touristenführerin.
Eine Stunde geht es in Serpentinen durch den Wald, oben warten ein Gletschersee und das Tea House, eine Blockhütte mit zwei Dutzend Teesorten im Angebot. Der britische Einfluss ist unübersehbar in Kanada, selbst in der Abgelegenheit der Rockies; schließlich ist Kanada eine parlamentarische Monarchie mit der Queen als Staatsoberhaupt.
Einfach hier bleiben
Auf der Veranda untersuchen sehr freche Streifenhörnchen abgestellte Rucksäcke sofort nach Essbarem. „Sie sind Deutsche, gell?“, erklingt es leicht Fränkisch hinter uns. Ein älterer Herr zieht zum Gruß seine Baseballmütze. Vor 50 Jahren sei er von Würzburg nach Kanada ausgewandert, und an diesen schönen Flecken kehre er fast jedes Jahr zurück.
So wie Julie und der Herr aus Franken würden es sicherlich viele Durchreisende gerne machen: einfach bleiben und sich immer wieder berauschen lassen. Die Bergformationen, die Seen, Flüsse und Wasserfälle der Rocky Mountains sind überwältigend im Süden von Alberta. Der Banff National Park, in dem Lake Louise liegt, gehört zum Unesco Welterbe, 1885 gegründet ist er der älteste Nationalpark Kanadas. Vier Millionen Besucher jährlich können nicht irren. Sie werden angelockt durch Fotos von tieftürkisen Seen wie Lake Louise, Moraine Lake, Peyto Lake oder dem Maligne Lake im benachbarten Jasper Nationalpark. Immer wieder müssen die Mitarbeiter im örtlichen Visitor Center schmunzeln bei der Frage, welches Färbemittel denn in die Seen gelassen werde. Das liegt am Gletschermehl erklären sie dann, dem hauchfeinen Sedimentabrieb, den die Gletscher bei ihren Wanderungen talwärts schieben.
Sieht wunderschön aus, ist aber leider zu kalt zum Baden, und zwar das ganze Jahr. Das freut die Bootsbetreiber und Kanuverleiher. Gleich von Banff aus kann man die Stille des Parks genießen und den Bow River raufpaddeln. Seinen Namen hat er von den Weiden am Ufer, aus denen die Indianer einst ihre Bögen („Bow“) fertigten. Die Gegend gehörte vor allem im 18. Jahrhundert zum Revier der Biberjäger. Das Fell war lange Zeit sehr begehrt. Französische, englische, schottische, russische Händler kauften den Indianern die Felle ab, schnürten sie zu dicken Paketen, heuerten Paddler an und ließen das kostbare Gut die Flüsse runterbringen.
Im Norden geht der Banff National Park in den Jasper National Park über. Nur ein Schild am Straßenrand trennt die beiden, die Naturschönheiten bleiben sich gleich. Der Highway 93, der beide Parks durchzieht, wird auf einem 230 Kilometer langen Abschnitt zum Icefields Parkway entlang der Gletscher, den Quellen all der Seen, Flüsse und Wasserfälle. Der Parkway gilt als eine der schönsten Fernstraßen der Welt.
Weiße Eiskrusten
Hat man sich gerade erst in eine Formation mit weißer Eiskruste verliebt, kommt fünf Autominuten später eine noch hübschere. Im Icefields-Zentrum kann man sich schlau machen in Sachen Gletscher und von hier aus einen der geländetauglichen Busse besteigen und zum Athabasca-Gletscher fahren. Beeindruckender aber ist die kurze Wanderung bis knapp an die Gletscherzunge. Nähert man sich langsam an, lässt sich die Dimension dieser Eisplatte viel besser erfassen. Ein Dutzend Jahreszahlen markieren, wie weit der Gletscher bis ins frühe 20. Jahrhundert hinunterreichte.
Zurück auf dem Highway 93. Nach ein paar Kilometern bildet sich ein Stau – Indiz für eine Bärensichtung. Da oben, am Berghang läuft das Motiv: eine Bärin mit zwei Jungen. Rentner mit iPads entsteigen ihren Wohnmobilen. Selbst Harley-Fahrer erliegen der Niedlichkeit der Jungen. Aber Mama Bär läuft so geschwind, dass ihr weder die Hobbyfotografen noch die beiden Jungen wirklich nachkommen können.
Bären sind unglaublich schnell, auch das macht sie gefährlich. Auf einem Berghang über Banff ist ein Bäreninformationszentrum eingerichtet. Es gibt Verhaltenstipps für Bär-Begegnungen – vom lautem Imponiergehabe (wenn er halbnah ist) bis zum Sich-tot-Stellen (wenn er sehr nah ist).
Man ist dann doch ganz dankbar, als man später am Mount Yamnuska lediglich Elche, Wapiti-Hirsche und Dickhornschafe sichtet. Sie lassen sich auch einfacher fotografieren als Bären.
Reisetipps
Paddeln auf dem Bow River: banffcanoeclub.com
Wildwasserfahrten bei Jasper: jasperraftingadventures.com
Reiterferien bei Brewsters: brewsteradventures.com
Rafter Six Ranch: raftersix.com
Allgemeine Informationen gibt es unter: travelalberta.de vio
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