Oberammergau liegt im tiefsten Bayern, die Bewohner sind stockkatholisch. Am Aschermittwoch beginnt dort ein Verzicht der besonderen Art: Friseurbesuche sind gestrichen, der Rasierapparat hört auf zu brummen, und zwar für lange Zeit. Freunde und Bekannte werden den einzelnen Oberammergauer, dessen Gesicht mit Haaren von allen Seiten zuwuchert, in ein paar Wochen kaum wiedererkennen, aber jeder in der Welt wird wissen: Der Bärtige wirkt bei den Passionsspielen mit, die ab Mai 2020 zu sehen sind.
Alle zehn Jahre verwildern die Oberammergauer, um Leiden und Sterben von Jesus in mehr als 100 Vorstellungen für 500 000 Besucher möglichst authentisch auf die Bühne zu bringen. Der Ort mit gerade einmal 5000 Einwohnern inszeniert die ältesten und größten Passionsspiele der Welt, die auf das Jahr 1632 zurückgehen, als die Pest wütete. Um den Schwarzen Tod zu vertreiben und fernzuhalten, schworen die Bewohner damals vor Gott, die Passion aufzuführen. Der Aschermittwoch mit dem sogenannten Haar- und Barterlass ist ein symbolträchtiger Tag für die Oberammergauer, aber auch für Gäste aus aller Welt, denn der Passionstourismus ist dann bereits in vollem Gange. Japaner wuseln bei Führungen durch das Festspielhaus, in dem unter anderem der Tisch zu sehen ist, der beim letzten Abendmahl auf der Bühne steht. Amerikaner schleichen behäbig durch die Stuhlreihen des 4800 Plätze fassenden Passionstheaters. Engländer bewundern die Lüftlmalereien an den Häusern, die sich um Christus und seine letzten Tage drehen. Wer im Garten vor dem Pilatushaus ob des Gedränges nicht bedächtig einen Fuß vor den anderen setzt, landet schon mal in den dornigen Rosen und fühlt sich dem Leiden Jesus näher als gewollt. Drinnen zeigen einheimische Handwerker und Künstler, was sie draufhaben. Allen voran Holzschnitzer, die spezielle Kurse für Touristen anbieten, in denen man lernt, Kreuze und Sterne aus einem Stück Lindenholz zu schälen. Auch dort gibt es das ein oder andere ungewollte Blutvergießen, weil das Stemmeisen doch leichter abrutscht als gedacht. Folklore ist wichtig für Oberammergau, um Gäste anzulocken. Und doch hat der Ort, hat das Ammergau viel mehr zu bieten. Man versucht, mit einem sanften Wander- und Radtourismus zu punkten, um Passionsbesucher über die Spiele hinaus zu binden.
Die Entschleunigung als Gegenpol zum überhitzten Theaterbetrieb im Ortskern beginnt am Fuße des 1686 Meter hohen Labers, auf den eine Nostalgie-Bergbahn mit Zehner-Gondeln fährt. 120 Personen schafft sie pro Stunde. Das ist eigentlich nichts für Ungeduldige, wirkt aber genau für diese manchmal heilsam. Anstehen, den Berg beobachten, die Natur bewundern, dann langsam nach oben schweben. Während der Fahrt gibt es einen technischen Stopp und damit zusätzlich etwas Zeit, das grüne Voralpenland durch die Verlangsamungsbrille zu betrachten.
Wer oben ankommt, muss keinen Gewaltmarsch mehr machen, um das Ettaler Manndl, einen bekannten Aussichtspunkt, zu erreichen. Oder man setzt sich gleich darnieder und blickt fasziniert auf die Zugspitze und ihre steinigen Nachbarn links und rechts. Natürlich sind hier im sanften Gebirge auch die Mountainbiker und E-Biker unterwegs. Zwar ist die Ausschilderung noch dürftig, aber immerhin gibt es ein großes Wegenetz, das der traditionellen Waldwirtschaft geschuldet ist. So ist es kein Zufall, dass dort Oberförster Anton Burkhart unterwegs ist, der im Jahr 2000 den Christus mimte.
Ob ihn die Rolle verändert hat? Er verneint, aber es sind einzelne Szenen geblieben, die ihm heute noch kalte Schauer über den Rücken jagen. Als er das erste Mal am Kreuz hängt und in die Zuschauermenge blickt, sieht er entsetzte, bangende Gesichter und weinende Menschen. „Jeder weiß, wie es ausgeht, dass Jesus stirbt. Und trotzdem sind alle total mitgenommen.“ Anton Burkhart ist auch 2020 wieder dabei, er darf dann den Josef von Arimathäa spielen. Er ist einer von rund 2500 Mitwirkenden, der halbe Ort ist mit von der Partie und muss sich überlegen, wie er das seinem Arbeitgeber erklärt. Die Spielzeit geht von Mai bis Oktober, fünfmal die Woche ist Passion. Die 21 Hauptrollen sind doppelt besetzt, aber es ist fast unmöglich, gleichzeitig einem Vollzeitjob nachzugehen.
Oberammergau
- Unterkunft Alte Post: Das Drei-Sterne-Hotel ist eine solide Unterkunft. Die Zimmer sind teils renoviert, die Mahlzeiten typisch bayrisch, sprich: deftig. DZ/F ab 79 Euro. www.altepost.com Hotel Fux: Das Hotel (3 Sterne) bietet auch Ferienwohnungen. DZ/F ab 70 Euro. www.hotel-in-oberammergau.de
- Passionsspiele Premiere: 16. Mai 2020. Bis zum 4. Oktober gibt es 103 Aufführungen (Montag und Mittwoch sind spielfrei). Dauer: rund 5 Stunden. Jede Vorstellung wird in den späten Nachmittagsstunden für 3 Stunden unterbrochen, damit Zeit zum Abendessen etc. bleibt. Karten/Arrangements unter Tel. 05 11 / 54 38 90 47 oder www.passionsspiele-oberammergau.de
- Theater-Führungen: Di.-So., jeweils 14 und 16 Uhr (samstags 1. Führung bereits um 13 Uhr); Dauer: ca. 45 Minuten, Preis: 6 Euro. Ortsführungen: „Oberammergau und seine Geschichte“ jeden Samstag, 14 Uhr, Dauer: ca. 70 Minuten, Preis: 6 Euro. Treffpunkt Oberammergau Museum, Dorfstr. 8.
- Was man tun und lassen sollte Bereits diesen Sommer nach Oberammergau fahren und „Die Pest“ anschauen, die von Juni bis August gespielt wird. Das ist sozusagen die Vorgeschichte zur Passion. Karten ab 19 Euro unter www.passionstheater.de Auf keinen Fall stinknormales Bier trinken. Fast überall gibt es das helle und dunkle Klosterbräu aus Ettal.
- Allgemeine Informationen www.passionstheater.de
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