Im Kampf gegen die Volkskrankheit Krebs sind Wissenschaftler einen wichtigen Schritt vorangekommen. Immer häufiger gelingt es, schwer kranke Patienten mit Hilfe einer Immuntherapie erfolgreich zu behandeln. Doch es bleiben viele offene Fragen - und leider auch viele Patienten, die nicht auf die neuen Therapien ansprechen.
Georgios Kessesidis ist 26 Jahre alt, als sein Leben aus den Fugen gerät. Schlapp fühlt er sich, Atemnot und Nachtschweiß quälen ihn. Doch die Diagnose der Ärzte übertrifft seine schlimmsten Befürchtungen: Der junge Mann aus Reutlingen leidet an Lungenkrebs im Endstadium - obwohl er Nichtraucher ist. Die Aussichten sind verheerend. Der Tumor ist aufgrund seiner Größe inoperabel, er hat bereits gestreut, und die eilends eingeleitete Chemotherapie zeigt keinerlei Erfolg. Im Gegenteil: Der Krebs wächst weiter. "Ich hatte nur noch wenig Hoffnung", erinnert sich Kessesidis an das Frühjahr 2014. Auch die medizinische Einschätzung von Dirk Jäger, Leiter des Nationalen Centrums für Tumorerkrankungen (NCT) am Universitätsklinikum Heidelberg, klingt dramatisch: "Der Tumor befand sich in einem weit fortgeschrittenen Stadium. Das war eine nicht heilbare Situation."
Doch dann geschieht das, was selbst eingefleischte Schulmediziner als Wunder bezeichnen. Der junge Patient, der als austherapiert gilt, wird am NCT in eine internationale Studie aufgenommen. Getestet wird ein sogenannter Antikörper, der das Immunsystem stimulieren soll. Ziel ist, dass es die Krebszellen selbst angreift. Und tatsächlich. Das Medikament - letzte Hoffnung für Kessesidis - wirkt. Die körpereigenen Immunzellen attackieren den Krebs, schon bei der ersten Kontrolle ist der Tumor um die Hälfte geschrumpft.
Neues Kapitel der Krebsforschung
"Mir ging es relativ schnell besser", erinnert sich Kessesidis. "Das Wasser in der Lunge ging zurück, ich konnte wieder besser atmen." Er macht eine kurze Pause, schaut auf seine Turnschuhe. Dann hebt er den Kopf, lächelt und fügt hinzu: "Dadurch hat sich auch die Psyche verbessert." In der Tat sieht man dem inzwischen 27-Jährigen die Krankheit nicht an. Die 16 Kilogramm, die er während der Chemotherapie verloren hat, sind längst wieder drauf. Das Haar ist mittlerweile nachgewachsen, die dichten, dunklen Locken wollen nicht recht zum Bild eines Krebspatienten passen.
Doch der Fall von Kessesidis ist nicht nur medizinisch einwandfrei dokumentiert. Er ist auch kein Einzelfall. In aller Welt mehren sich die Berichte über Patienten, die im Endstadium einer Krebserkrankung von neuen Immuntherapien profitieren. Je nach Substanz und nach Krebsart gibt es Ansprechraten von 20 bis 50 Prozent der Teilnehmer auf die Behandlung; gewaltige Zahlen, wenn man bedenkt, dass nur austherapierte Patienten daran teilnehmen - also Menschen, die nicht mehr lange zu leben haben. Das Fachmagazin Science kürte die Erfolge der Immuntherapie sogar als wissenschaftliche Top-Entdeckung des Jahres 2013. "Ein neues Kapitel der Krebsforschung und -behandlung hat begonnen", schrieb das Blatt damals. Mittlerweile hat die Aufregung auch Europa erreicht. Eine der renommiertesten deutschen Auszeichnungen für Mediziner, der Paul-Ehrlich- und Ludwig-Darmstaedter-Preis, ging vergangene Woche an zwei amerikanische Wissenschaftler - für ihre Arbeiten zur Immuntherapie gegen Krebs.
Dabei ist der Ansatz, der den neuen Therapien zugrunde liegt, bestechend einfach: Das körpereigene Immunsystem soll in die Lage versetzt werden, den Krebs zu zerstören. Inzwischen laufen in aller Welt Studien. An einigen ist auch das Heidelberger NCT beteilig. "Was mich beeindruckt, sind nicht nur die Ansprechraten", sagt NCT-Chef Jäger über die ersten Ergebnisse. "Es ist das längere, vielleicht sogar dauerhafte Ansprechen. So etwas kennen wir aus der Krebsmedizin nicht."
Auch die Arzneimittelindustrie hat das Potenzial mittlerweile erkannt. "Da gibt es eine richtige Goldgräberstimmung", sagt Otmar D. Wiestler, Vorstandsvorsitzender des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ) in Heidelberg. Welchen Antikörper Lungenkrebspatient Georgios Kessesidis erhält und wo dieser genau ansetzt, das dürfen die Ärzte nicht sagen - zu groß sind die finanziellen Interessen der an der Studie beteiligten Pharmafirma. Aber so viel verrät NCT-Chef Jäger: Eine ähnlich wirkende Substanz hat in den USA gerade die Zulassung erhalten.
Doch auch wenn die neuen Medikamente und die Studien Anlass zu Optimismus geben: Es sind noch viele Fragen offen - zum Beispiel die nach Nebenwirkungen. Die neuen Substanzen befinden sich zum größten Teil in Phase-I-Studien, in denen zunächst ihre Verträglichkeit getestet werden soll. Bei Kessesidis fielen die Beschwerden erfreulich gering aus. "Ich hatte Durchfall, aber das war kein Vergleich zur Chemo", erzählt der 27-Jährige. Auch seine Schuppenflechte verschlechterte sich zu Beginn der Therapie. Es gibt aber auch Studien, die aufgrund der heftigen Nebenwirkungen abgebrochen werden mussten.
Ein weiteres Problem sind die strengen Vorschriften bei der Entwicklung von Medikamenten. "Es dauert zehn bis 25 Jahre, bis ein Antikörper tatsächlich zugelassen wird", kritisierte Helmut Salih vom Universitätsklinikum Tübingen jüngst bei einer Tagung in Heidelberg. Schuld daran seien die vielen Sicherheitsvorkehrungen in der Arzneimittelentwicklung. Seiner Meinung nach sollten Kliniken die Möglichkeit erhalten, selbst Antikörper herzustellen und damit Patienten zu behandeln, denen sonst nichts mehr hilft. "Bei diesen Männern und Frauen haben wir kein Sicherheitsproblem, da haben wir ein Effektivitätsproblem", betont er.
Keine Langzeiterfahrungen
Und es gibt weitere Fragezeichen. Bis heute verstehen Wissenschaftler und Ärzte nur ansatzweise, warum die Immuntherapie bei manchen Patienten sehr gut wirkt, bei anderen aber gar nicht. Laut DKFZ gibt es zum Beispiel bei schwarzem Hautkrebs - der bisher als sehr schwer behandelbar galt - hervorragende Ergebnisse. NCT-Chef Jäger spricht von einem "lang anhaltenden Überleben bei etwa 20 bis 30 Prozent der Patienten". Auch bei Kessesidis und anderen Teilnehmern der Studie hat die Behandlung optimal angeschlagen. Dennoch muss Jäger einräumen: "Bei manchen Patienten wirkt die Substanz nicht - und wir wissen noch nicht, warum das so ist."
Patient Kessesidis erhält die Antikörper im Rahmen der Studie vorerst ein Jahr lang - noch bis Juni. Alle zwei Wochen reist er für die Infusion und eine ärztliche Kontrolle nach Heidelberg. Vom einst faustgroßen Tumor ist auf dem CT-Bild nur noch ein kleiner Rest übrig. Wie sich dieser nach dem Ende der Behandlung verhalten wird, ist unklar. "Ob der Zustand lange anhält und ob man dann wirklich von einer Heilung sprechen kann, das kann keiner von uns momentan vorhersagen", räumt DKFZ-Chef Wiestler ein.
Denn dazu ist die Immuntherapie zu neu: Langzeiterfahrungen gibt es schlicht noch nicht.
Immuntherapien
Aufgabe des Immunsystems ist es, Krankheitserreger wie Viren und Bakterien zu entdecken und gezielt zu zerstören. Das Immunsystem greift aber nicht nur fremde Zellen an, sondern auch körpereigene Zellen, die entartet sind.
In jedem Menschen entstehen jeden Tag Hunderte von Krebszellen, die das Immunsystem sofort zerstört. Nur in sehr seltenen Fällen kann sich aus diesen entarteten Zellen ein Tumor entwickeln.
Um zu einem Tumor zu werden, haben die Krebszellen Mechanismen entwickelt, mit denen sie die Immunantwort abwehren. Spezielle Botenstoffe hindern die Immunzellen daran, in den Tumor einzudringen und dort die Krebszellen zu vernichten.
Einige Immuntherapien, sogenannte Checkpoint-Hemmer, setzen an genau dieser Stelle an. Sie schalten die Unterdrückungsmechanismen des Tumors aus. Dadurch wird die Immunreaktion des Körpers nicht mehr gehemmt, die Immunzellen attackieren den Krebs.
Ein weiterer Ansatz sind therapeutische Impfungen gegen Krebs. Sie setzen an speziellen Veränderungen auf den Krebszellen an.
Anschließend werden im Labor körpereigene Immunzellen des Patienten so verändert, dass sie die Tumorzellen anhand der Veränderungen identifizieren und schließlich ausschalten können. mad
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