Vor vier Jahren haben sie sich zum ersten Mal getroffen und saßen in einem Stuhlkreis. Seither arbeiten sie ehrenamtlich beim Sorgentelefon in Berlin mit, machen Nachtschichten, wechseln sich ab, um Ratsuchenden, Einsamen, Verzweifelten zuzuhören und mit ihnen zu reden: die Theologiestudentin Rieke, die ehemalige Matrosin Wanda, die für ein Museum Gegenstände aus dem DDR-Alltag sammelt, der Bauarbeiter Matthias und die rätselhafte und attraktive Emilia, in die er sich verliebt, zudem die immer etwas traurige Buchhalterin Marianne, der pensionierte Radioredakteur Lorentz mit esoterischen Interessen und die 80-jährige Frau von Schrey, die Klavier spielt und deren Mann einst als Terrorist erschossen wurde.
Judith Kuckarts neues Buch spielt an einem Osterwochenende, von Gründonnerstag bis Ostermontag, an dem sie alle Dienst tun und vor allem über ihr eigenes Leben nachdenken. Vieles kreuzt und verknüpft sich, die unterschiedlichen Charaktere werden sichtbar, die Lebensläufe aus Ost und West, das Unverständnis und der Versuch, dem anderen nahezukommen.
Judith Kuckart: Café der Unsichtbaren. Roman. Ver lag DuMont. ...
Und das Erzählen des eigenen Lebens zwischen Erfindung und Wahrheit: „Was ist schon fiktiv und was real existierend, mein Kind, wo bitte soll da der Unterschied sein?“, fragt die Ich-Erzählerin von Schrey die junge Studentin Rieke. Und auch Emilia merkt, dass sie „keine richtige Figur“ ist, sondern sich fühlt „wie eine von diesen albernen Prinzessinnen bei Shakespeare“. Und die angehende Pastorin Rieke denkt sich für eine Übungspredigt Menschen und Leben aus, die sie aus den Akten des Sorgentelefons übernimmt und in einem „Café der Unsichtbaren“ platziert.
Zu langsam für das Glück
Denn die Not ist groß, die Menschen sind arm und einsam wie die Arbeitslose, die kein Geld mehr hat, der Pädophile, der Angst hat, rückfällig zu werden. Viele wollen reden, viele brauchen Rat, manche aber auch nur eine Stimme, die für sie da ist. Dabei haben sie selbst auch ihre Probleme: Matthias zum Beispiel, dessen Beziehung zu Emilia nicht funktioniert, ist „zu langsam für das Glück“, und Lorentz mag Gesellschaft, aber nur, wenn sie ihm nicht zu nah kommt.
Es gibt einige schöne Elemente in diesem Roman, so wenn sie alle von ihrem Büro aus in die Wohnung eines jungen Mannes schauen, der oft am Fenster steht, und sich ihre Gedanken über ihn machen. Mit dem Rieke eine Beziehung anfängt. Aber insgesamt bleiben die Geschichten erstaunlich blass und oberflächlich, die Menschen werden nicht lebendig, ihre Geschichte wird immer wieder nur angerissen und wieder abgebrochen, auch durch zu viele theoretische Gedanken über das Schreiben: „Denn Erzählen ist ein Labyrinth. Immer wieder kommt man – auf der Suche nach einem guten Ausgang – an Stellen vorbei, die einem bekannt vorkommen, aber doch kein Ausgang sind.“
Genauso labyrinthisch ist der Roman auch, denn er bietet zu viele Geschichten und auch zu viele stilistische Manierismen. Dabei ist es doch grade Kuckarts Stärke, sich auf eine Geschichte zu konzentrieren und deren Verschlungenheiten und oft seltsame, absurde und damit glaubhafte Abweichungen zu erzählen.
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