Ein Dorf im ostdeutschen Odertal, ein „Tal der Ahnungslosen“: kein Westfernsehen, nur die staatliche Propaganda der frühen 1980er-Jahre. Ein typisches Dorf, wie Lieselotte erzählt: „Keiner will was sagen, aber alle wollen alles wissen. Jeder möchte die Dinge so machen, wie er das schön findet, mischt sich aber gleichzeitig in die kleinsten Angelegenheiten der Nachbarschaft ein. Niemand sagt was, aber trotzdem wissen alle, was gemeint ist. Und angeblich interessiert sich keiner für irgendwas, und doch sind alle unendlich neugierig.“
Hier lebt auch Michael wieder, nachdem er wegen einer Arbeit über Schopenhauer von der Uni Rostock geflogen ist, weil sie nicht auf Parteilinie lag. Er hat den Hof seiner Großeltern geerbt und macht eigentlich gar nichts. Aber dann kommen plötzlich lauter fremde Frauen, wohnen bei ihm eine Woche lang. Denn Michael hat eine Gabe: Mit Hypnose kann er Menschen an jeden beliebigen Ort der Welt reisen lassen.
Das spricht sich herum in der DDR, denn lesen über den Westen kann man vielleicht noch, aber dorthin reisen, das ist ein Sehnsuchtswunsch vieler. Anika zum Beispiel reist nach Paris, wo sie eine Affäre mit Alain Delon beginnt. Und sie ist so fasziniert, dass sie auf dem Hof bleibt und die Organisation in die Hand nimmt. Es wird ein Erfolg: „Vorher gab es nur dieses Gefühl, lebenslänglich in einem sehr ordentlich ausgestatteten und weitgehend anständig geführten Gefängnis leben zu müssen“, sagt Peggy, „mit der vagen Hoffnung auf eine befristete Haftverschonung bei Erreichung des Rentenalters. Aber die Hypnose befreite mich von diesem Gefühl. Ich konnte mich zwar nicht nach außen befreien, aber der Weg nach innen stand mir offen.“ Ob es die Chefsekretärin Anika oder die Berliner Krankenschwester Peggy ist, die ein Konzert der Band The Cure besucht – viele von ihnen wollen schließlich überhaupt nicht mehr zurück in die Realität.
Leicht, mit viel Witz und sehr gekonnt aus mehreren Perspektiven mit unterschiedlichen Stimmen erzählt der Leipziger Psychiater Jakob Hein diese Geschichte von den kleinen Fluchten, vom Plan, den Geschäften und kleinen und größeren Gefallen, die man in der DDR nun mal machte, um an das zu kommen, was man wirklich wollte. Bis zum bitteren Ende, denn natürlich hat die Stasi sie längst alle beobachtet.
Bei aller Leichtigkeit hat Heins Roman nicht nur den realen Hintergrund der DDR-Wirklichkeit, sondern er ist auch eine Hymne auf die Macht der Fantasie, in der die Vorstellungskraft eine Fluchtmöglichkeit bietet und ein großes Potenzial an Widerstandskraft entwickelt. Es geht im Roman auch um das eigene und das gesellschaftliche Glück und die politischen Kräften, die das verhindern wollen.
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