Manfred ist vor allem durchschnittlich. Ein Wirtschaftsinformatiker ohne besondere Fähigkeiten. „Als Fünfunddreißigjähriger lebte er schlampig und improvisiert, ohne Zeichen größeren Wohlstands oder guten Geschmacks.“ Der Anblick „seines tränensackigen Gesichts, der hängenden Schultern, des unwürdigen Bauchansatzes, der dünnen Arme und Beine“ ist auch nicht besonders reizvoll. Und dennoch hat Manfred einen Alarm ausgelöst. Er scheint der wundersamen Pforte nahegekommen zu sein, die ihn befähigt, eine höhere Seinsstufe zu erreichen. Das muss verhindert werden, und dafür ist seit Jahrhunderten der Zorrgh zuständig.
Schnell stellt er fest, dass es auf keinen Fall Manfred gewesen sein kann, denn der ist zu tumb. Es muss jemand aus seinem Umfeld gewesen sein. Und um den zu finden, setzt sich der Zorrgh in Manfred fest, steuert ihn, lässt ihn abnehmen, reich werden, eine neue Wohnung beziehen und ein teures Auto kaufen, und vor allem alte Kontakte wieder aufnehmen, damit er den Alarmauslöser findet: die beiden Frauen, in die Manfred einmal verliebt war, und seinen alten Schulfreund, den genialen Programmierer Axel. Der Zorrgh kommt aus einer Sphäre, in der all das verwirklicht ist, was die Menschheit noch anstreben muss: Frieden, Gerechtigkeit, ein ökologischer Umgang mit der Natur… Und um zu verhindern, dass die so minderwertige „Menschlinge“ in die andere Sphäre gelangen, ohne auch diese Prinzipien verwirklicht zu haben, gibt es die Überwachung – zuständig dafür ist die „zeitgenössische Astro-Zoologie“.
Auch Descartes kommt vor
„Manfred“ ist ein Science-Fiction-Roman mit einer bösen Ironie und einem wichtigen Anliegen: An den Menschen wird kaum ein gutes Haar gelassen, sie sind aus der Sicht des Außerirdischen Barbaren, die man überwachen muss. Nur wenigen gelingt ein Einblick wie Hieronymus Bosch, der seine fantastischen Bildervisionen gemalt hat – ihm wird der Zutritt für kurze Zeit gestattet, ehe er an einem Übermaß an Glückseligkeit stirbt. Die meisten anderen werden abgelenkt, René Descartes etwa, dessen scharfes Nachdenken über den Geist die Philosophie aus dem Mittelalter führte, durch Kriegsteilnahme und Sex. Und auch Manfreds Zusammenarbeit mit Axel – sie bauen ein Superteleskop, mit dem sie in die fremde Welt schauen wollen – wird von Zorrgh torpediert.
Der Roman ist selbst ein Ausbund an Fantastik: In einer überbordenden, barocken, oft verschachtelten Sprache rast der Ich-Erzähler Zorrgh durch die Jahrhunderte, erzählt von Ada Lovelace und der genialen Maria Agnesi ebenso wie von Albert Einstein, der einen Alarm auslöste, als sein „träumerischer Intellekt einen Lichtstrahl überholte“. Lehrs Roman handelt von Genie und Wahnsinn, Körper und Geist, Kunst und Philosophie, Barbarei und Zivilisation und wirft einen unterhaltsamen, aber auch desillusionierenden Blick auf den erbärmlichen Zustand der Menschheit.
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