Eine monumentale Reihe hat ihren Abschluss gefunden. Mit dem Band „Geteilte Welten“, der den Zeitraum von 600 bis 1350 umfasst, ist die sechsteilige „Geschichte der Welt“ komplett. Mit mehrjähriger Verspätung, sind doch die anderen Teile zwischen 2012 und 2017 erschienen. Der Grund für die Verzögerung liegt nach Verlagsangaben weitgehend darin, dass der vorgesehene Herausgeber des Bandes, Harvard-Professor Cemal Kafadar, „trotz zahlreicher Ermahnungen und Bitten bedauerlicherweise nicht seinen Pflichten nachgekommen ist“.
Kafadar ist Fachmann für Sozial- und Kulturgeschichte Südosteuropas und des Mittleren Ostens. Er wurde ersetzt durch Daniel G. König, Professor für Geschichte der Religionen in Konstanz. Dadurch ist die Herangehensweise sicherlich leicht verschoben worden, doch die „allgemeinen Vorgaben des verbindlichen Konzepts wurden beibehalten“, so eine Verlagssprecherin. Am Ende waren 36 Historiker als Autor und/oder Herausgeber an der Reihe beteiligt. Sie erscheint bei C.H.Beck und Harvard University Press.
Unentdeckte Kontinente
Weltgeschichte ist lange Zeit als eine Abfolge des Aufstiegs und Niedergangs von Kulturen oder Reichen beschrieben worden. Die „Geschichte der Welt“ verabschiedet sich davon. Abläufe erscheinen hier nicht als Aneinanderreihung einzelner Spezialgeschichten. Zwar leugnet man die Errungenschaften und Verdienste einzelner Regionen – etwa des Westens – nicht, stellt sie aber in den größeren Zusammenhang mit Entwicklungen in anderen Teilen der Welt. Das Ziel: das mit vielen Krisen verbundene Entstehen der heutigen integrierten und pluralistischen Welt sichtbar zu machen.
Der im Band beschriebene Zeitraum zwischen 600 und 1350 bot geografisch noch so viel Platz, dass Gesellschaften isoliert voneinander existieren konnten. Australien oder Ozeanien waren noch gar nicht entdeckt, der amerikanische Doppelkontinent kam nur kurz um das Jahr 1000 im heutigen Kanada mit Wikingern in Kontakt. Möglicherweise gab es auch einige kleinere Lager auf Baffin Island, in Labrador und hinunter bis nach Maine in den heutigen USA – einige erwähnt in isländischen Quellen, andere durch Fundstücke markiert. Allerdings darf man sich die Wikinger nicht als friedliche Siedler vorstellen, sondern – zumindest in dieser Zeit – eher als marodierende Banden.
Schätzungen gehen davon aus, dass um das Jahr 1000 zwischen 253 und 310 Millionen Menschen auf der Erde lebten, ein halbes Jahrtausend später zwischen 424 und 484 Millionen. Mit diesem Anstieg „entstanden oder verdichteten sich auch die Mobilitätsströme“, meint König. Die Folge: Austauschsysteme in Europa/Asien, Europa/Afrika, Afrika/Asien und innerhalb der beiden Amerikas stabilisierten sich. Die Verbindungen beeinflussten „die Lebenswelten von Millionen von Menschen auf allen sozialen Ebenen“. Herrschaftsräume entstanden, veränderten sich oder zerfielen. Interkontinental breiteten sich Wirtschaftsbeziehungen, Technologien, Religionen oder politische Ideen weiter aus – die „geteilten Welten“ wurden zum „Motor des Zusammenwachsens“, so König.
Die zunehmenden Verflechtungen betrachtet der Band aus der Perspektive von sechs Makroregionen. So sollen regionale Besonderheiten berücksichtigt werden. Und es zeigt, in welchem Grad die Großregionen Teil weitergespannter Netzwerke wurden. Diese Reihe ist nicht zuletzt deshalb so wertvoll, weil sie sich als „Gegenentwurf zu einer Nationalgeschichtsschreibung“ versteht, wie es Jürgen Osterhammel formuliert, einer der beiden Gesamtherausgeber und Pionier der Globalgeschichte.
Übersteigerte Nationalismen haben zu Katastrophen globalen Ausmaßes geführt. Aktuell überzieht Russland die Ukraine mit Krieg, weil Moskau der einstigen Sowjetrepublik die Staatlichkeit abspricht, was auch auf einer nationalistisch-ideologisierten Geschichtsdeutung basiert. In der „Geschichte der Welt“ schärft die globale Sicht den Blick für größere Zusammenhänge.
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