Es geht um Eltern und ihre erwachsenen Kinder, um das Verdrängte, Nichtgesagte und das Schweigen. Eine Pfarrerfamilie mit dem deutschen Namen Hildebrandt lebt in einem Vorort von Chicago. Die Eltern haben ihren Nachwuchs in der amerikanischen Lebenskultur erzogen, aber die wollen immer wenige von ihren Eltern annehmen, haben sie fast abgeschrieben. Man versteht sich nicht mehr. Der Roman ist eine Tragikomödie.
Wir Lesenden werden anschaulich in die Zeit vor rund 50 Jahren zurückversetzt. 1971, in den USA herrscht Bürgerkrieg, es gibt Hippies, Sex, Drug & Rock n’ Roll, Baseball, Burger und Alkohol. Auf dem Cover des kiloschweren Buches hockt ein Gitarrenspieler mit zerrissenen Jeans – Jonathan Franzen (kleines Bild) selbst, das Bild wurde im Jahr 1974 aufgenommen. Da war er, 1959 geboren, ein junger Mann, der seinen Weg suchte. Die Gesellschaft war lockerer geworden, aber die meisten Amerikaner hielten noch viel von der Religiosität als Maßstab des Daseins.
Mit 15 hatte Franzen sich einer evangelischen Jugendgruppe angeschlossen, im Buch erzählt er, wie es damals war. Die Jugendlichen wurden von einem jungen Kirchenangestellten, ein paar Jahre älter als sie und ein begabter, cooler Menschenfänger beeinflusst. Man unterrichtete sie in Seminaren, stramm biblisch orientiert und mit dem Ziel, ehrliche Menschen zu werden und anderen freundlich zu begegnen. Spirituelle Gruppentherapie für Teenager.
Die jungen Kirchenmitglieder sind in ihrer Gemeinde beliebt, während ausgerechnet Pfarrer Russ Hildebrandt ins Abseits gerät. Er ist altmodisch, spießig und schämt sich wegen seiner übergewichtigen Frau. Als dann eine junge Witwe in die Gemeinde kommt, die Zuflucht sucht, beginnt er sie skurril zu beflirten, woraufhin die Frau die Flucht ergreift. Das spricht sich herum, Hildebrandts ältester Sohn geht seinen Vater an: „Hast du irgendeine Ahnung, wie peinlich es ist, dein Sohn zu sein.“
In Franzens Chronik beginnt in dieser Zeit der Wechsel in der US-Gesellschaft. Die Älteren bleiben unter sich, vor allem die Väter verlieren an Bedeutung. Von den vier Kindern der Hildebrandts kommen drei nicht mehr in den Gottesdienst, auch weniger ins Familienhaus. Der älteste Sohn will in den Vietnamkrieg, um seinen Vater, einen selbsternannten Pazifisten, als Heuchler darzustellen. Die Familie löst sich mehr und mehr auf. Die „alten weißen Männer“ haben das Ruder nicht mehr in der Hand, sie verstehen ihre Zeit nicht und beharren auf tradierten Privilegien.
Die Unterschiede zwischen Alt und Jung werden drastisch beschrieben, es geht um die Gefühle der Jungen, ihre Liebes- und Sexszenen. Der Autor kann die Unruhe vermitteln, den Wandel, der nicht mehr aufzuhalten ist.
Eine Fülle an verschiedenen Figuren wird aufgeführt, Frauen wie Männer, mit den Vorlieben zu moralischer Strenge und Individualismus der Älteren und der liberalen Popkultur der Jüngeren. Der Autor nimmt jede seiner Figuren ernst, er stellt sie vor die Kulisse der Moderne, schildert vielfach die vielen verlorenen Hoffnungen, Missgeschicke und die vergebliche Suche nach dem Glück.
Franzen hat in einem Interview erklärt, er habe seinen Roman auf einem „dunklen Untergrund“ geschrieben, er selbst habe ein „zweiteiliges Leben“ geführt. Gemeint ist die Bedeutung der Religion, die zerbröckelt, an ihre Stelle trete heute die Psychoanalyse.
„Crossroads“ ist ein erstaunliches Buch, weil darin die Wege verfolgt werden, die seit Jahren in Amerika auseinandergehen. Es ist starke Literatur, die ehrlich und eindringlich ist. Am Ende zieht Franzen die Spuren bis in die 2020er Jahre hinein. Das Buch ist auch unterhaltsam und damit für alle gut lesbar. Wer Amerika verstehen will, hat hier eine Erzählung.
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