Ein Skandal: Cordelie ist schlecht in der Schule. Ein Nachhilfelehrer muss her. Und das im Haus des „Geistesriesen“ Professor Helmut Eiger, dem berühmten Philosophen, dem letzten Intellektuellen des Landes: In seinem Tübinger Haus ist schon Ernst Bloch über den Teppich gestolpert, Heidegger hat seinen Spazierstock vergessen, und Sartre kam mit dem Taxi aus Paris. Eiger kann es nicht fassen, dass seine Enkelin so eine Versagerin ist. In Mathematik. In Religion.
Und ihre Deutschaufsätze! Da schrieb sie: „Die Begegnung mit Woyzeck finde ich eine persönliche Bereicherung. Wie soll ich es beschreiben…“ Und Eiger tobt: „Eben das war das Problem. Sie konnte es nicht beschreiben.“ Nicht mal einen Füller hat sie, und in einem Schulheft findet er Fehler über Fehler. „Die Seiten waren überdies mit Klecksen und Flecken übersät: Tintenflecken, Blutflecken und sonstigen Flecken. Ihre Handschrift – nahezu unleserlich. Wahllos, krakelig, chaotisch. Auflösungserscheinungen.“
Sein Assistent soll es richten. Denn Eiger sitzt an seinem Hauptwerk, einem Buch über Platon, wie noch nie über ihn geschrieben wurde. Und mit seinem Freund Werner Mönch, ebenfalls berühmter Professor in Tübingen, noch ein Buch über das Sterben: „Der schöne Tod“ soll es heißen. Kurz zuvor ist Eiger pompös in den Ruhestand verabschiedet worden, die bundesdeutsche Prominenz war da, der Ministerpräsident.
Die Sprache entgleitet ihm
Aber dann scheint er vergessen zu werden, kein Brief kommt, keine Anfrage für einen Vortrag. Niemand vermisst ihn, sein Platonbuch wird nur von der Tageszeitung besprochen, sein Sterben-Buch gar abgelehnt. Eiger versinkt in sich. Sitzt tagelang an der Schreibmaschine, im Trainingsanzug, ohne die Tasten zu berühren. Unterstreicht Sätze in einer kostbaren Erstausgabe. Das Schlimmste: Die Sprache entgleitet ihm.
Die Fallhöhe ist hoch: Vom eloquenten Philosophen, der aus jeder Trivialität einen spannenden Ausflug in ein tiefes Denken machen konnte, zu einem dementen, hilflosen Mann, der sich in Leintücher hüllt mit einer Blume im Mund. Sagt „postmordender Unsinn“ und korrigiert sich zu „postmodernder Unsinn“. Ein bisschen wie in Shakespeares „König Lear“, in dem Lear verwirrt wird und nur noch seine Tochter Cordelia (und den Narren) hat.
Jochen Zelter hat sich und uns zu seinem 60. Geburtstag ein Buch geschenkt, in dem er die Geschichte des Gelehrten und Schriftstellers Walter Jens erzählt, dessen Frau einen ergreifenden Bericht über seine Demenz geschrieben hat.
Aber es ist kein Schlüsselroman, sondern, auch wenn die übertriebenen Wortkaskaden Eigers am Anfang eine Satire auf abgehobene Gelehrte sind, am Ende ein düsterer, wehmütiger, zugewandter und trauriger Roman über den inneren Verfall eines Menschen, der mit und für die Sprache lebt. Und über seine Frau, die ihn schützt und stützt, so lange es geht. Und seine Enkelin, die ihn geduldig begleitet und mit ihm einkaufen geht, wo er zufrieden einen Schokokuss essen kann – für ihn das größte Glück.
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