Literatur

Das Ohr hört mit

Mit „Samson und Nadjeschda“ eröffnet der ukrainische Autor Andrej Kurkow eine Krimireihe, die so realistisch wie skurril ist

Von 
Georg Patzer
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Schriftsteller und PEN-Präsident: Andrej Kurkow. © Annette Riedl/dpa

Alles wendet sich zum Guten, als Samson Koletschkos Vater von Kosaken mit einem Säbel erschlagen wird: „Der linke Arm seines bereits toten Vaters stieß ihn zur Seite, und so traf der nächste Hieb nicht Samsons rothaarigen Kopf, aber auch nicht daneben – er schlug ihm das rechte Ohr ab, Samson sah es fallen, konnte noch die Hand ausstrecken, fing es auf und hielt es festumschlossen in der Faust“. Ein Augenarzt hilft ihm, versorgt die Wunde und legt das Ohr in eine kleine Schachtel. Es ist der 11. Mai 1919.

Ein Land im Chaos des Krieges

In der Ukraine herrscht Bürgerkrieg. Die Macht der Sowjets ist noch wackelig, das Land im Chaos. Das Leben ist gefährlich, und Samson ist allein in Kiew, selbst das Familiengrab, gefüllt mit Vater, Mutter und Schwester, „lässt ihm keinen Platz mehr übrig.“ Und auch in der Wohnung wird es eng: Zwei Rotarmisten werden zwangsweise bei ihm einquartiert. Eines Nachts hört er, wie sie sich flüsternd unterhalten, obwohl sie doch in einem anderen Zimmer schlafen: Dort im Schreibtisch hat Samson sein abgetrenntes Ohr in einer Bonbonschachtel verstaut. Und das hört für ihn weiter.

„Sollen wir ihn töten?“, fragt der eine, der andere widerspricht: „Du willst immer nur töten. Und wenn sie es dann verbieten, und du hast dich schon so dran gewöhnt? Und außerdem müsste man die Leiche entsorgen. Raustragen und auf die Straße werfen, das macht man nicht mehr.“ Also lassen sie ihn erst einmal leben. Samson hat Glück und bekommt eine Stelle bei der Polizei, die kurz zuvor seinen Schreibtisch requiriert hat. Als er ihn nämlich wiederhaben will, verlangt der Vorgesetzte einen Bericht, lobt ihn am nächsten Tag: „Sie schreiben gut.“ Und stellt den ehemaligen Studenten ein.

Es ist eine chaotische Welt: Verschiedene Währungen sind im Umlauf, manchmal fällt der Strom aus, wenn das Kraftwerk kein Feuerholz mehr hat, aber dann muss man ihn auch nicht bezahlen, weil keine Rechnungen kommen. Nachts ist es lebensgefährlich, die Polizei geht nur in Gruppen auf Patrouille. Manche Menschen sind indifferent gegenüber den neuen Machthabern, andere, wie Nadjeschda, in die sich Samson verliebt, überzeugte Kommunisten: „Die Arbeit muss nicht interessant sein, sie muss wichtig und nützlich für die Gesellschaft sein“, sagt sie einmal.

„Samson und Nadjeschda“ ist ein Krimi, so grotesk wie das Leben zu jener Zeit: Vor allem das abgetrennte Ohr in der Schachtel, das heimlich mithört, hilft. Es geht um Diebstähle in großem Stil, einen seltsamen Anzug, silberne Knochen und Anschläge auf die Polizisten, die sich der Wahrheit annähern. Ein bisschen Wahrheit in einer unsicheren Zeit, in der heute nicht mehr gilt, was gestern noch wahr war. Wo Polizisten bestraft werden, weil sie einen Schreibtisch zu Unrecht und ohne Quittung requirieren, aber der Schreibtisch nicht zurückgeht. Wo Samson etwas Hirn seines Vaters ins Auge spritzt, und wo Salz und Brot wichtige Zahlungsmittel sind. Mit viel hintersinnigem, oft bösem Witz mit Sinn für Skurrilitäten erzählt der ukrainische Autor Andrej Kurkow Geschichte und Geschichten von einem naiven Samson, der sich durch das Dickicht der Welt schlägt.

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