Vielfalt

Autoren mit Migrationshintergrund zunehmend präsent in deutscher Literatur

Von der Nische zum Spiegel der Einwanderungsgesellschaft: Autoren mit Migrationsgeschichte werden in der deutschen Literatur immer präsenter. Unser Überblick zeigt die Vielfalt - und was dabei bisher übersehen wird

Von 
Anna-Katharina Gisbertz
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Georg-Büchner-Preis und Mannheims Schillerpreis in einem Jahr – das Beispiel der Autorin Emine Sevgi Özdamar, hier mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in der Kunsthalle, zeigt: Migrationsliteratur ist endgültig etabliert. © Andreas Henn

Mannheim. „Wir sind ein Land mit Migrationshintergrund“, machte Bundespräsident Steinmeier anlässlich der Schillerpreisverleihung 2022 in der Kunsthalle deutlich. Damit bekräftigte er vor allem, dass die Migration im Herzen der deutschsprachigen Literatur angekommen ist. Denn Emine Sevgi Özdamars Roman „Ein von Schatten begrenzter Raum“ (2021) erzählt ein Stück autobiographischer Geschichte aus Berlin, Istanbul und Paris in der Nachkriegszeit. Er verbindet Erfahrungen aus Ost und West und führt über Europas Ländergrenzen hinweg.

Bücher über migrantische Geschichten als Klassiker von morgen

Dass Özdamar 2022 auch mit dem Georg-Büchner-Preis geehrt wurde, erhebt sie in die Reihen der Klassikerinnen von morgen. Ihre Themen berühren, und sie entwirft eine lebendige Welt des Hin und Her zwischen Ländern und Kulturen, das aufregend wirkt. Özdamars Buch ist auch deshalb so packend, weil ihr Leben in die Jahre zurückführt, als Millionen Menschen infolge des wirtschaftlichen Aufbaus als Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter nach Deutschland kamen.

Franco Biondi begann 1965 als Schlosser und Elektroschweißer, schrieb zudem Gedichte und wechselte zur Prosa, wo er sich bald auf Deutsch mit seiner empfundenen Fremdheit in Deutschland befasste. Sein Erzählband „Abschied der zerschellten Jahre“ (1984) bringt die Schwierigkeiten einer bis dahin kaum bekannten Bevölkerungsgruppe zur Sprache. Die Gastarbeiterliteratur gab in den 1970er und 1980er Jahren erstmals Einblick in das Leben von Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten, deren Innenperspektiven bis dahin auf der Strecke geblieben waren. Auch ein Gino Chiellino betonte die Fremdheit in Lyrik und wissenschaftlicher Arbeit.

Einblick durch Gastarbeiterliteratur

Ab den 1990er Jahren äußerten sich die Kinder der Gastarbeiter zu Ausgrenzung und Identitätsfragen. Sie kritisierten ihre verzögerte Integration. Mit Feridun Zaimoglus „Kanak Sprak“ (1995) wurden „Misstöne“ eines gebrochenen Deutsch literaturfähig, und Zaimoglu, Sohn von Gastarbeitern, löste sich auch von der Betroffenheitsliteratur, die von Migrantinnen und Migranten bis dahin erwartet wurde. Er zeigte sich als kritischer Beobachter der Einwanderungsgesellschaft, in die er sich auch politisch einmischte. Was es heißt, deutsch zu sein, wird von ihm immer neu befragt.

Von Fremdheit und Isolation handeln auch Terézia Moras Texte ab Ende der 1990er Jahre, wobei nicht nur Migranten, sondern auch IT-Spezialisten aus Berlin Mitte davon betroffen sein können. Mit „Das Ungeheuer“ (2013) erreichte Mora ein breites Publikum, und 2018 folgte der Büchner-Preis.

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Von
Theresa Martus
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Vielfältige Themen aus Sichtweise von Migranten

Wie Mora lösen sich auch Jaroslav Rudis, Ilma Rakusa, Sasa Stanisic, Navid Kermani, Ilja Trojanow und Irena Brezna vom Thema der Migration, bringen in ihren Erzählungen aber dennoch erlebte Vielfalt und sprachliche Mehrgleisigkeit ein. Damit eröffnen die Texte neue Bezüge und zeigen sich selbst als Kulturübersetzerinnen. In Jaroslav Rudis’ Ode an die Eisenbahn mit dem Titel „Gebrauchsanweisung fürs Zugreisen“ (2021) wird Europa etwa anhand seiner Bahnstrecken liebevoll durchreist und neu kartiert. 

Ilma Rakusas lyrisches Corona-Tagebuch „Kein Tag ohne“ (2022) eröffnet europäische Perspektiven zwischen Pandemie und Krieg. Nicht weniger als die georgische Geschichte des 20. Jahrhunderts erzählt Nino Haratischwili in ihrem virtuosen Romanepos „Das achte Leben (für Brilka)“ (2014), worauf weitere Romane und Theaterstücke folgten.

Flüchtlingskrise 2015 änderte Interesse

Waren Ausgrenzung und Heimatlosigkeit vor zehn Jahren Randthemen auf dem Buchmarkt, so änderte sich das Interesse durch die Flüchtlingswelle 2015. Wobei auch die Betroffenheitsliteratur zurückkehrte, aber raffinierter, gebrochener, engagierter.

Sensibel geworden für die Tatsache, dass Menschen in Deutschland zunehmend Migrationshintergrund haben, wandelt sich das Ansehen von migrantischen AutorInnen vom vermeintlichen Defizit zur Kompetenz, um Risiken und Nebenwirkungen von Fremdheit, kultureller Entwurzelung und Heimatlosigkeit zu ermitteln.

Fehlende Perspektiven teilen

Dass noch niemand die Erfahrungen eines Asylbewerbers in Deutschland aufgezeichnet hat, brachte Abbas Khider zu seinem Roman „Ohrfeige“ (2016). Wie sich eine geflüchtete Jugendliche fühlt, zeigt Julya Rabinowich in „Dazwischen Ich“ (2016). Warum man die polnische Muttersprache verdrängen kann, aber nicht für immer, macht Emilia Smechowski in „Wir Strebermigranten“ (2017) deutlich.

Was eine elfjährige Russin fühlt, die als Kontingentflüchtling aus Russland kommt, erinnert Lena Gorelik in „Wer wir sind“ (2019). Und in Fatma Aydemirs auch am Mannheimer Nationaltheater dramatisierten Roman „Dschinns“ (2022) führen Familienbeziehungen erneut an die Ränder Europas. Dadurch entstehen Vorstellungen von Europa, die weder schmerzfrei noch humorlos sind. Sie erzählen vom Leben unter Terror, zeigen Spuren von Hass und Gewalt, aber auch starke Sehnsüchte.

Auch in Mannheim teilen Autoren ihre Erfahrungen

Die Liste der guten Literatur zum Migrationsland Deutschland ist folglich breit geworden, doch wandelte sie sich auch vom Gefühl der Isolation hin zur befreienden Möglichkeit, alles sagen zu können, was vorher nicht sagbar war. Die Autorinnen und Autoren gaben mitunter auch in Mannheim Einblick in ihr Schreiben. „Es fühlt sich gut an“, meint Lena Gorelik, dass sie sich mit ihrer Herkunft nicht mehr allein fühlen muss. In der Prosa herrscht Aufbruchsstimmung.

Andere Bereiche der migrantischen Literatur liegen jedoch noch brach. Lyrik mit Migrationshintergrund wird zum Beispiel kaum gelesen. Dass sich das bald ändert, hofft der Lyriker und neue Präsident des PEN-Zentrums Deutschland, José F. A. Oliver - ein weiterer Gastarbeitersohn.

Anna-Katharina Gisbertz, geboren 1973 in Bad Wildungen, promovierte als Literaturwissenschaftlerin in Chicago. Die Habilitation folgte als Akademische Rätin bei Joachim Hörisch in Mannheim. 2022/23 wirkt sie an der 20. Auflage der interkulturellen Literaturreihe Europa_morgen_land mit.

Freie Autorin Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Mannheim, Themen: Neuerer Literatur und Kultur, Regionales, Literaturfestivals, Rezensionen

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