Konzertkritik

PJ Harvey in Berlin: Außerhalb von Raum und Zeit

Die britische Indie-Größe PJ Harvey betört im Berliner Admiralspalast mit ihrer neuesten musikalischen Erzählung und ihren größten Songs

Von 
Agnes Polewka
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Eine Erscheinung, nicht nur auf der Bühne: Die englische Indie-Legende PJ Harvey. © dpa

Berlin. PJ Harvey ist eine Künstlerin, die ihr Innerstes nach außen kehrt. Sie verschmilzt mit ihrer Kunst, die in intimste Sphären vorstößt. Daraus erwächst ihre besondere künstlerische Kraft, die in Wellen durch den Raum schwappt, wenn sie ihre Songs interpretiert. Mit ihrer Stimme und ihrem Körper. Wenn sie sich von ihrer Musik tragen lässt und sie trägt.

Am Samstag hat sie im Admiralspapast in Berlin ihr erstes von nur zwei Deutschlandkonzerten gespielt. Karten gab es schon seit Monaten keine mehr.

Als Polly Jean Harvey, die sich als Künstlerin PJ Harvey nennt, im cremefarbenen knöchellangen Kleid die Bühne betritt und "Prayer at the Gate" aus ihrem zehnten Album "I Inside the Old Year Dying" anstimmt, gibt es da nur sie und den Raum, in dem sie ihre musikalische Erzählung beginnt, Song für Song des Albums spielt, das live eine noch stärkere Wirkung entfaltet. "I Inside the Old Year Dying" basiert auf Gedichten ihres lyrischen Romans "Orlam".

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In Versform erzählt sie darin die Geschichte der neunjährigen Ira-Abel, die in der Region Dorset im Südwesten Englands lebt, wo Harvey selbst aufgewachsen ist. Sie verortet sie im fiktiven Ort "Underwhelem", wo sich das Mädchen mehr und mehr in eine Parallelwelt flüchtet. In Träume und Halluzinationen. Und wie in Orlam geht es "I Inside the Old Year Dying" um das Leben und das Sterben, den Anfang und das Ende, den ewigen Kreislauf der Natur, wenn man so will.
Und den bringt die 54-jährige Harvey in einem Setting auf die Bühne, das wie eine Theaterkulisse anmutet. Mit Holzstühlen, Tee und einem Sekretär. Aus der Zeit gefallen. Wie alles, was sie an diesem Abend tut.

Harvey, ihr langjähriger musikalischer Wegbegleiter John Parish, Schlagzeuger Jean-Marc Butty und die Multiinstrumentalisten Giovanni Ferrario und James Johnston legen die passenden Klänge um die verschlungenen Verse und um die Menschen im Raum, hüllen sie ein, in eine wohlig-warme Atmosphäre des Verbundenseins. Getragen von Klängen, die die englische Zeitung  "Guardian" unter einem "komplizierten Epos aus Folk, elektronischer Musik und Blitzlichtern der Post-Punk-Ära" subsumiert.

Sie spielen das ganze Album und spielen gleichsam mit Licht und Schatten - im eigentlichen und im übertragenen Sinn.

Da ist eine Körperlichkeit, eine Präsenz von PJ Harvey, die sich immer weiter auswächst. Dann verschwindet sie von der Bühne. "The Color of the Earth" interpretieren die Männer, und es beginnt ein zweites Set. Eines, in dem PJ Harvey, die an diesem Abend immer wieder so viel jünger wirkt, in ihren Sound der 90er eintaucht, oder besser durchtaucht, so voller Energie. "Man-Size", Dress", und natürlich "Down by the Water".

Die wohlige Wärme im Raum schlägt in ekstatische Hitze um, auf dem roten Samt der Sessel hält es kaum jemanden mehr, zu stark ist die künstlerische Kraft, die übergeschwappt ist.

Redaktion

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