Diane Nyad (Annette Bening) ist gerade sechzig geworden. Während andere in ihrem Alter schon über den Ruhestand nachdenken, ergeht sich die frühere Marathon-Schwimmerin in Hasstiraden über die Faulheit und Mittelmäßigkeit der modernen Welt. Niemand wolle mehr etwas Herausragendes leisten, behauptet Diane mit insistierendem Zeigefinger und stahlhartem Blick.
„Dann mach‘ etwas dagegen“, sagt ihre beste Freundin Bonnie (Jodie Foster), die die alte Leier einfach nicht mehr hören kann. Vier Jahre später wird Diane Nyad die 177 km lange Strecke von Kuba nach Florida als erste Schwimmerin ohne Zuhilfenahme eines Schutzkäfiges zurückgelegt haben. 52 Stunden ohne Pause auf offener See. Ein bis heute unangefochtener Rekord. Die Passage gilt als der Mount Everest des Langstreckenschwimmens.
Nicht nur die Distanz von Havanna nach Key West, die etwa einer fünffachen Ärmelkanal-Durchquerung entspricht, ist extrem, sondern auch die maritimen Rahmenbedingungen. Wechselnde Strömungen, große Haifisch-Bestände und hochgiftige Quallen erhöhen das Gefahrenpotenzial im Golf von Mexiko. Ein solches Schwimmvorhaben ist nicht nur in körperlicher, sondern auch in mentaler Hinsicht eine ungeheure Kraftanstrengung.
In der neuen Netflix-Produktion „Nyad“ zeichnen Elizabeth Chai Vasarhelyi und Jimmy Chin ein schillerndes Porträt der außergewöhnlichen Athletin. Die beiden hatten bereits in der oscarprämierten Dokumentation „Free Solo“ über den tollkühnen Freikletterer Alex Honnold ihr Faible für Extremsportler bewiesen. „Nyad“ ist das Spielfilmdebüt des Filmemacher-Ehepaares, dem mit Annette Bening in der Titelrolle ein echter Besetzungscoup gelungen ist.
Egozentrische Nervensäge
Über ein Jahr hat sich Bening sportlich auf die Rolle vorbereitet. Voll und ganz lässt sie sich auf den Charakter der Frau ein, die mit über 60 dieses größenwahnsinnige Projekt startet. An ungetrübtem Selbstbewusstsein mangelt es Diane Nyad nicht, die gern und viel über sich und ihre Erfolge spricht, auch wenn die Partygäste mit zunehmender Verstörtheit ihren egozentrischen Ausführungen folgen. Als Nervensäge der besonders faszinierenden Art spielt Bening durchaus oscarverdächtig die ehemalige Athletin und Sportreporterin, die nach dreißig Jahren aus heiterem Himmel ihre Karriere als Marathon-Schwimmerin reaktiviert. Wie in allen Lebenslagen steht ihr auch bei diesem Projekt ihre Freundin Bonnie loyal zur Seite.
Die beiden lesbischen Frauen waren vor vielen Jahren für kurze Zeit liiert und haben ihr Verhältnis in eine unverwüstliche Freundschaft transformiert. Vollkommen unsentimental wird die Vertrautheit der beiden langjährigen Freundinnen in Szene gesetzt. Es ist eine ungleiche Beziehung, denn Diane geht davon aus, dass sich die Welt allein um sie dreht, während es Bonnie gelingt, hinter der egomanischen Fassade ihrer Freundin deren eigentliche menschliche Qualitäten zu sehen.
Bening und Foster entwickeln vor der Kamera eine geradezu hinreißende Chemie und verzahnen die beiden unterschiedlichen Charaktere zu einem lebendigen Freundschaftsgefüge. Für die maritime Überquerung stellen Diane und Bonnie ein eigenes Team zusammen. Der erfahrene Navigator John Bartlett (Rhys Ifans) berechnet die Strömungen und den idealen Kurs.
Ein elektromagnetischer Störsender soll unter Wasser Haie verjagen. Kajaks und Taucher sind bereit, um etwaige Angriffe abzuwehren, und sogar eine Quallenexpertin ist mit an Bord. Aber trotz all dieser peniblen Vorbereitungen dauert es zwei Jahre, bis Diane bei ihrem fünften Versuch am 31. August 2013 in Key West erschöpft und glücklich an den Strand taumelt. Vasarhelyi und Chin setzen diese Reise innerhalb der Gesetze des Sportfilm-Genres durchgehend interessant und spannend in Szene, indem sie zum einen den Fokus auf die Beziehungs- und Gruppendynamik des Extremsportvorhabens lenken und zum anderen mit Claudio Miranda („Schiffbruch mit Tiger“) einen Kameramann an Bord haben, der die Faszination und die Gefahren des Meeres poesievoll ins Bild fasst.
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