Zunächst, nach kurzer Exposition, ist das hinreißende Gesicht von Penélope Cruz zu sehen. In Nahaufnahme. Ihre Lippen, ihre Augen, ihre Wimpern, ihre Nase, ihr Mund, ihre makellose Haut. Emanuele Crialese feiert in „L’Immensità – Meine fantastische Mutter“, seinem ersten Film seit dem Flüchtlingsdrama „Terraferma“ (2011), ihre Schönheit. Einen intimen Familienfilm hat der 1965 in Rom geborene Regisseur realisiert. Im gemeinsam mit Francesca Manieri („Die unglaubliche Geschichte der Roseninsel“) und Vittorio Moroni verfassten Drehbuch erzählt er von der eigenen Jugend vor seiner Transition zum Mann.
Sein Alter Ego ist Adriana (Luana Giuliani), von der Mama liebevoll „Adri“ gerufen, zwölfjährige Tochter der fünfköpfigen Familie. Die Borghettis sind gerade in einen der neuen Wohnkomplexe der italienischen Hauptstadt gezogen. Doch das schicke Apartment mit Blick auf den Petersdom vermag nicht darüber hinwegzutäuschen, dass Clara (Cruz) in einer lieblosen Ehe gefangen ist. Ihr tyrannischer Mann Felice (Vincenzo Amato) hat sich im Laufe der Jahre von ihr distanziert und unterhält mit seiner Sekretärin ein Verhältnis. Eine Trennung kommt für ihn jedoch keinesfalls in Frage: „Schlag dir das bloß aus dem Kopf...“
So rettet sich die angeheiratete Spanierin, die unter schweren Gemütsschwankungen leidet, in ihrer Einsamkeit in die Beziehung zu ihren Kindern, setzt alles daran, die bestmögliche Erziehungsberechtigte zu sein. Das ist dem autoritären Gatten ein Dorn im Auge, was zu ständigen Streitereien führt. Besonders Claras liebevoller Umgang mit Adriana stört ihn. Wohl weil diese eisern zu ihrer Mama hält, um deren wechselnde Stimmungen weiß: „Komisch. Immer wenn du dich schminkst, gehst du aus oder du hast geweint.“
Familienband droht zu zerreißen
Dabei wird sie selbst von niemandem ernsthaft wahrgenommen: „Du und Papa, ihr habt mich nicht richtig gemacht. (...) Und du bist nicht in der Lage mich hinzukriegen, Mama. Ich komme aus einer ganz anderen Galaxie“. Heimlich stiehlt sie sich immer wieder weg. In eine schlecht beleumundete Roma-Siedlung hinter einem Schilfgürtel. Hier gibt „Adri“ sich als Junge aus, nennt sich Andrea und freundet sich mit einem Mädchen namens Sara (Penélope Nieto Conti) an. Das fragile Band, das die Familie gerade noch zusammenhält, droht zu zerreißen.
In „L’immensità“, was übersetzt so viel wie „Unermesslichkeit“ oder „Unendlichkeit“ bedeutet, zeichnet der Filmemacher das Porträt eines Familienverbands – und einer Gesellschaft – im Umbruch. Oscar-Preisträgerin Cruz („Vicky Cristina Barcelona“) glänzt als Frau am Rande des Nervenzusammenbruchs. Mal himmelhoch jauchzend, dann wieder zu Tode betrübt. Regelmäßig kommt es zu schwungvollen Tanz- und Gesangseinlagen, die die Hausarbeit unterbrechen. Die Inspiration hierfür holt man sich von den allabendlichen schwarz-weißen Fernsehshows mit Adriano Celentano und Raffaella Carrà. Der Filmtitel bezieht sich auf einen Song des italienischen Schlagersängers und Schauspielers Don Backy.
So wie die Ewige Stadt sich verändert, davon zeugen Baugruben und Rohbauten, so verändern sich die Borghettis. Die beiden kleinen Kinder, Nesthäkchen Diana (María Chiara Goretti) und der bulimische Gino (Patrizio Francioni), suchen nach Halt, sind vom erratischen Verhalten der Mama irritiert, Adriana versucht sich zu emanzipieren, ihren Platz im Leben zu finden. Sich von Clara zu lösen.
Etwa als diese beim Weihnachtsessen mit den Verwandten zu ihren Kindern unter den Tisch rutscht: „Du kannst nicht mit uns spielen. (...) Du bist eine Erwachsene.“ Oder gleich im Opener, wo sie umgeben von Antennen, angetan mit einer Superheldenjacke, auf dem Dach ihres Hauses steht und auf ein himmlisches Zeichen wartet.
Letzter Fokus fehlt
Zig Themen werden aufgegriffen. Das ist durchaus spannend, bereitet jedoch gleichzeitig Probleme. Es fehlt in letzter Konsequenz der Fokus, der eindeutig auf der komplexen Mutter-Tochter-Geschichte liegen sollte. Dass das insgesamt dennoch nicht stört, liegt am gut harmonierenden Ensemble, dem man gerne folgt. Hinzu kommen die magischen, wohl komponierten, nostalgisch gefärbten Bilder von Kameramann Gergely Pohárnok, der Soundtrack von Rauelsson und Ohrwürmer wie „Ma chi se ne importa“ oder „Scende la pioggia“ von Gianni Morandi. Nur einem Satz gilt es unbedingt zu widersprechen. Wenn Andrea, bestechend verkörpert von der Newcomerin Giuliani, zu Clara – der die Männer ewig nachstarren – sagt: „Kannst du bitte aufhören, so schön zu sein.“
Penélope Cruz
Innerhalb weniger Jahre reift die 1974 in Madrid geborene Penélope Cruz von der sexy Nebendarstellerin zum internationalen Star.
1990 debütiert sie beim Fernsehen und schafft 1992 mit ihrem Kinodebüt in „Jamon, Jamon“ den Durchbruch.
2007 wird sie mit ihrer Rolle in „Volver – Zurückkehren“ in Cannes mit dem Darstellerpreis belohnt und als erste Spanierin für einen Oscar vorgeschlagen. Drei Nominierungen folgen. 2009 klappt es mit Woody Allens „Vicky Cristina Barcelona“ mit dem Academy Award.
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