Selten passiert es, dass ein deutscher Titel den Kern eines Films genauer trifft als der des Originals. „Anatomie d’une chute“ heißt Justine Triets dieses Jahr in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnete Produktion, die hierzulande als „Anatomie eines Falls“ in die Kinos kommt. „Sturz“ lautet die deutsche Übersetzung von „chute“. Und um einen Sturz geht es im Kern. Aber auch um einen juristischen „Fall“, den dieser tödliche Sturz nach sich zieht. Was alle eingefleischten Cineasten gleich an Otto Premingers Leinwandklassiker „Anatomie eines Mordes“ denken lässt. Ein Gerichtsfilm also. Ja, aber nicht nur.
Unspektakulär fängt alles an. Seit fast zwei Jahren lebt Sandra (Sandra Hüller), eine deutsche Schriftstellerin, mit ihrem Ehemann Samuel (Samuel Theis) und dem elfjährigen, seit einem Unfall blinden gemeinsamen Sohn Daniel (Milo Machado Grano) zurückgezogen in einem Haus in den französischen Alpen. Eine Studentin, die an ihrer Doktorarbeit über die Erfolgsautorin sitzt, ist gerade zu Besuch. Doch weil der Gatte, der im Dachgeschoss mit Renovierungsarbeiten beschäftigt ist, die Musik unerträglich laut aufdreht, bricht Sandra das Interview entnervt ab und verschiebt dieses auf einen neuen Termin.
Kurz darauf wird Samuel tot im Schnee gefunden. Er scheint vom dritten Stock in den Tod gestürzt zu sein. Ein Unfall? Suizid oder gar Mord? Die Sachlage ist unklar. Weder die Polizei noch die Forensik-Spezialisten können feststellen, wie es zu dem Unglück gekommen ist. Da eindeutige Beweise fehlen, kommt auch Sandra als Tatverdächtige in Frage. Vorsorglich engagiert sie Anwalt Vincent Renzi (Swann Arlaud). Mit diesem bereitet sie sich auf einen möglichen Prozess vor. Zu Recht. Ein Jahr später erhebt die Staatsanwalt Klage.
Unnahbare (Anti-)Heldin
Wer jetzt eine klassische Tätersuche erwartet, irrt. Der hierzulande (noch) wenig bekannten Filmemacherin steht der Sinn nicht nach Genre. Und das obwohl sie sich aller prototypischen Versatzstücke bedient: Verschiedene Fährten werden gelegt, mögliche (Mord-)Szenarien durchdekliniert. Rührt die tödliche Wunde am Kopf des Opfers von einem Sturz oder einem Schlag? Hat Sandra das Verbrechen sorgfältig geplant und ihre Spuren dann geschickt verwischt? Das wäre ihr durchaus zuzutrauen - zumal sie alles andere als eine Sympathieträgerin ist und eine überhebliche Unzugänglichkeit ausstrahlt.
Hinzu kommen widersprüchliche Aussagen der Zeuginnen und Zeugen sowie der Umstand, dass die schmallippige, unnahbare (Anti-)Heldin wohl schon länger mit ihrem Mann im Streit gelegen ist. Ob des Umzugs in das einsam gelegene Chalet, wegen des nie ausreichenden Geldes, vor allem aber weil sie meint, dass er maßgebliche Mitschuld an Daniels Unglück trägt. Samuel wiederum hat ihr eine lesbische Affäre vorgeworfen, die sie zunächst vehement bestritten hat. Besonders schwer wiegt jedoch, dass ihr geliebter Sohn sie bei seiner Zeugenaussage schwer belasten.
Ein Vexierspiel um Szenen einer Ehe. Ein Beziehungsstück, bei dem Triet bewusst keine klare Position bezieht. Sie bildet lediglich ab, zeigt ihre Figuren bei deren Tun. Eine kalte, fast wissenschaftliche Versuchsanordnung. Wer ist gut, wer böse? Eine Entscheidung, die der Zuschauer treffen muss. Was ist Wahrheit, was Fiktion? Wer Täter, wer Opfer? So erklärt sich die Eröffnungsszene mit der jungen Doktorandin. Um Wahrheit und Fiktion geht es da, um Realität und Imagination. Um die Art wie Sandra beim Schreiben vorgeht und wie viel Wahrheit sie für ihre Literatur braucht beziehunsgweise in diese einfließen lässt.
Schein und Sein. Das ist letztendlich der Kern des Werks. Klug verpackt. Inklusive aktueller Themen, die im Subtext verhandelt werden: Fake News, #MeToo, (Vor-)Verurteilung. Eine rund zweieinhalbstündige Soziologie- und Philosophiestunde, unspektakulär, gradlinig gestaltet - bis auf einen kurzen, überraschenden Rückblick, der mehr Rätsel aufgibt als löst. Bedacht ist der Musikeinsatz, klar sind die Bilder von Simon Beaufils („Alice und das Meer“). All das wird getragen von der Ausnahmekönnerin Hüller, die bei der Uraufführung auf der Croisette mit Standing Ovations bedacht wurde. Stoisch, unnahbar legt sie ihre Rolle an. Schauspielkunst pur, die Vorfreude weckt auf ihren Part als Hedwig Höß, Ehefrau des KZ-Kommandanten Rudolf Höß, in Jonathan Glazers „Zone of Interest“, dessen Start für den 29. Februar nächsten Jahres terminiert ist.
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