Albumreview Indie-Rock

David Julian Kirchner will dem Mannheimer Pop-Prekariat eine Stimme geben

Der hochgelobte Popakademieabsolvent veröffentlicht sein zweites Album. „Papierkramland“, das sich hartnäckig im Gehörgang festklammert, ist eine der drei bislang veröffentlichen Singles von „IG Pop“

Von 
Martin Vögele
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Das Bild zeigt die „IG Pop“-Liveband: (V.l.) David Julian Kirchner, Rebecca Mauch, Enya Specht und Thilo Eichhorn. © Gordon Friedrich

Mannheim. „Anmelden, abmelden, ummelden, nachmelden“: Es ist der Funk der Funktionalität, mit man sich bei David Julian Kirchners „Papierkramland“ immer weiter durch uniforme Amtsflure geschoben fühlt. Einen energischen Stempeldruck-Beat und schubkräftigen Bass im Rücken, injiziert einem der Song ein Gefühl unterschwelliger Unsicherheit: Alle Unterlagen parat, alles ordnungsgemäß vorbereitet, an alle Vorschriften gehalten? Die Bangnis, den großen Behörden-Bruder zu verärgern, der mit Argusaugen wacht und wertet, folgt dabei auf Schritt und tritt. „Papierkramland“, das sich hartnäckig im Gehörgang festklammert, ist eine der drei bislang veröffentlichen Singles von „IG Pop“ - dem neuen Album des Mannheimer Popakademie-Absolventen David Julian Kirchner, der nicht nur singt und Songs schreibt und Instrumente spielt, sondern seine künstlerisch-gesellschaftlichen Reflexionen weit über das operative Geschäft des Musikmachens hinaus denkt. Zuvor geschah das mit seinem Kunstprojekt Kirchner Hochtief, bei dem er in die Entrepreneur-Rolle des (größenwahnsinnigen) CEOs eines fiktiven Unternehmens schlüpfte - eine Ausstellung im Mannheimer Port25 sowie Konkurs und Konzernabwicklung mit eingeschlossen. Als musikalischer Bilanzposten zeugt das hervorragend geratene 2019er Indie-Pop-Album „Evakuiert das Ich-Gebäude“ von dieser (weiterhin fortbestehenden) Unternehmung.

Info

  • David Julian Kirchner wurde 1982 in Mainz geboren. Er studierte zunächst klassische Gitarre in Wiesbaden und zog Ende der Nullerjahre nach Mannheim, wo er ein Studium an der Popakademie Baden-Württemberg absolvierte.
  • 2018 erschien sein Debütalbum „Evakuiert das Ich-Gebäude“. An den Aufnahmen zum Nachfolger „IG Pop“ wirkten die Musiker und Musikerinnen Thilo Eichhorn, Tilman Claas, Rebecca Mauch, Florian Schlechtriemen und Yolanda Diefenbach sowie Ozan Ata Canani mit.
  • Das Album ist auf dem Label Staatsakt erschienen. Es ist als reguläre Schallplatte wie auch als „Exclusive Red Vinyl Edition“ erhältlich und zudem auf den gängigen Streamingdiensten verfügbar.
  • Im November gehen Kirchner und die „IG Pop“-Band auf Tour. Zum Abschluss gibt es am 2. Dezember eine Album-Release-Party in den Mannheimer Kulturbrücken.
  • Infos: www.davidjuliankirchner.de

Die weiland verfolgte „neoliberale Idee von Kunst und Popmusik – also als Markt“ dreht Kirchner auf seinen neuen Langspieler, der hälftig aus eigenen Songs, hälftig aus Neuinterpretationen klassischer Arbeiterlieder besteht, nun diametral um: Angelehnt an Industriegewerkschaften wie die IG Metall stellt die „IG Pop“ (was hier gleichermaßen als Albumtitel, Live-Bandname und Polit-Initiative zu verstehen ist) für Kirchner ein „solidarisches Bündnis der Kulturarbeiter*innen“ dar, „ein politisches Instrument“, aus dem er „eine utopische Gewerkschaft, die eine Stimme für das Mannheimer Pop-Prekariat wird“, formen will.

Vom Pop-Konzern zum Arbeiterlied-Stimmführer

Auf „Papierkramland“ ist die Stimme des deutsch-türkischen Liedermachers Ozan Ata Canani zu hören, den Kirchner schon von dem Sampler „Songs of Gastarbeiter“ kannte: „Und das fand ich total spannend, auf einem Arbeiterlieder-Album auch diese Perspektive drauf zu haben“, sagt er. Der Titelsong, die drangvoll voran schnellende Indie-Agit-Pop-Nummer „IG Pop (Boys & Girls)“, fungiert hierbei als Gewerkschaftshymne: „Girls boycott! Boys get up! Steht auf, auf geht’s Maschinenstop! Probt den Aufstand! Roter Knopf! Alles tanzt wie Iggy Pop!“. Die anderen Eigenkompositionen sind ebenso glänzend gelungen: Das nach Art eines Strand- und Surf-Pop-Songs vordergründig hell ausgeleuchtete „Wir gehen in die Sonne“, das melancholisch-hypnotisch trudelnde „Das Lied von der Mundgerechtigkeit“ oder das hart und kantig-punkig in die Seiten geschlagene, im Refrain Strahlenkranz-poppig aufgefächerte „Jugend Total“.

Seit' an Seit' dazu werden bekannte Arbeiterlieder völlig neu eingekleidet: Durch Bertolt Brechts „Das Einheitsfrontlied“ weht hier ein seiltanzend pulsierenden Hauch von Bowies „Heroes“, „Die Internationale“ wird über einen schnell schlagenden Elektro-Pop-Beat gespannt und klingt in ihrer ätherischen Zerbrechlichkeit fast fragend: Gibt es sie (noch), die internationale Solidarität? Heinrich Heines „Die schlesischen Weber“ versetzt Kirchner in eine angespannte Paranoia-Funk-Stimmung, „Der heimliche Aufmarsch“ (Hanns Eisler/Ernst Busch) gleitet mit Ratschgurken-Sound und tiefergelegter Effektstimme im Barjazz-Abendkleid Richtung „sozialistische Weltrepublik“. Und die deutsche Version von „Bella Ciao“ driftet zum Abschluss des Albums Wiegenlied-haft durch eine Sternen-gesprenkelte Schummrigkeit.

Keine Spur von Klamauk

Nichts daran sei ironisch oder klamaukig, betont Kirchner: „Das ist für mich eine ganz klares, unironisches Ausprobieren dieser Lieder“, um die Frage zu stellen „Warum singt die eigentlich keiner mehr?“ Während sich die Linke zusehends zerspalte, seien „Fragen zu Ungleichheit und Solidarität und Gewerkschaft“ - gerade auch im Bereich von Kultur - „akuter denn je“, findet er. „IG Pop“ dockt hieran mit fesselnder narrativer und musikalischer Kraft an. Es ist in Album, das man hört, um es danach gleich nochmal zu hören, und das mit jeder Umdrehung an Tiefenwirkung gewinnt.

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