Zwischendurch fing man an, sich Sorgen zu machen: Casper, dieser unbändige Rap/Rock Energiesprudler mit im Mannheimer „Hagestolz“ gestählten Feierbiest-Qualitäten, wurde gefühlt immer dünner und ätherischer – kein optimaler Zustand für einen fast schmerzhaft authentischen Geschichtenerzähler, der jedem Zuhörer sein Herzblut auf der Silberzunge serviert. Dann verschob der Deutsch-Amerikaner aus Ostwestfalen 2016 sein viertes Album auch noch um ein ganzes Jahr – Perfektionismus und Selbstzweifel sind auch kein gesunder Cocktail.
Dass eines der Lebenszeichen ausgerechnet eine Single mit dem Titel „Lang lebe der Tod“ war, musste einen auch nicht optimistisch stimmen. Obwohl: Der Schachzug, zusammen mit dem auf „Hinterland“ bewährten Produzenten und Popakademiker Markus Ganter, eine Art Indie-Rock-Chanson zu kreieren, war brillant. Genau wie die Kombination der Gastsänger, die dem Song zu ganz unterschiedlichen Atmosphären verhilft: Die Ganter-Schützlinge Dagobert, ein erfreulich eigenwilliger Schweizer Schlagersänger, und Fabian Altstötter vom Landauer Elektropop-Trio Sizarr kontrastieren schon wunderbar zu Caspers rauem Sprechgesang; dazu noch Blixa Bargeld von den Einstürzenden Neubauten zu rekrutieren, verleiht dem Song eine zeitlos grandiose Morbidität.
Abschied vom Rap-Zwang Apropos Sprechgesang: Den Zwang, auch Hip-Hop-Stilfaschisten wie Kool Savas und Co. gefallen zu müssen, hat das lebende Musiklexikon Casper jetzt endgültig abgeschüttelt. Mit Rap hat das Album nur insofern zu tun, als dass darauf Text- und Stilzitate montiert werden wie von einem Kendrick Lamar des Indie-Rock. Die Songs sind sperriger als das meiste auf „Hinterland“. Sie wollen nicht nebenbei gehört werden, fordern durch brutale Intensitätswechsel die Aufmerksamkeit – und belohnen das Zuhören dadurch, dass jeder einzelne irgendwann Dauerbrennerqualitäten offenbart – „Keine Angst“ mit dem Herxheimer Drangsal ist der offensichtlichste Hit.
Auch inhaltlich ist „Lang lebe der Tod“ Caspers intensivste Platte. Statt die Außenseiter-Hipster-Geschichten seiner Generation zu erzählen, geht Benjamin Griffey mit sich und der Welt ziemlich hart in den Clinch. Das vordergründig ruhigste Lied „Deborah“ kann man als erschreckend treffende Hymne an eine Depression hören. Lieder wie das punkig-wutschnaubende „Wo die wilden Maden graben“, „Lass sie gehen“ (mit Cro-Kumpel „Ahzumjot & Portugal.The Man) oder das minimalistische „Meine Kündigung“ reflektieren fast therapeutisch die eigene Rolle. Und fast nebenbei zeigt der 34-Jährige in der knarzenden Elektropop-Nummer „Morgellon“, wie man unfallfrei aus der Perspektive von besorgten Verschwörungstheoretikern singt, ohne dass sie einen vereinnahmen könnten. (Columbia/Sony) jpk
★ ★ ★ ★ ★
Unsere Note:
5 Sterne von 6 Sternen (Megamäßig)
(6 Sterne - Musikmythos; 5 Sterne - Megamäßig; 4 Sterne - Muntermacher; 3 Sterne - Mittelmäßig; 2 Sterne - Mächtig mies; 1 Stern - Mama Mia)
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/leben/gesehen-und-gehoert/alben-rezensionen-plattenkritiken_artikel,-neue-alben-casper-wenn-die-depression-deborah-heisst-_arid,1205763.html