Ernährungssoziologe

„Esskultur ist konservativ“

Heute gibt es wieder alte Apfelsorten zu kaufen, zugleich aber auch flüssige Astronautennahrung. Wohin geht die Entwicklung? Ein Gespräch mit dem Ernährungssoziologen Daniel Kofahl über Genuss, Moral und neue Geschmäcker – und über das Potenzial von Heuschrecken auf unseren Tellern.

Von 
Julia Lauer
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Einerseits bleiben wir unseren Ernährungsgewohnheiten lange Zeit treu, das zeigen Lebensmittel wie das Brot. Andererseits ist unser Essverhalten stets auch Moden unterworfen. Was steht künftig auf unseren Einkaufszetteln? Sind wir womöglich bald alle Veganer? Keineswegs, ist der Ernährungssoziologe Daniel Kofahl überzeugt. „Den Sonntagsbraten aus echtem Fleisch wird es weiterhin geben“, prognostiziert er. Bei einer Bratwurst zwischendurch hält er jedoch auch im Labor gezüchtetes Fleisch für eine Alternative.

Herr Kofahl, heute posten Sie auf Twitter Bilder von Lasagne, Herrentorte und Chili con Carne. Was zeigen Sie dort in 30 Jahren?

Daniel Kofahl: Hoffentlich immer noch Lasagne, denn es ist mein Lieblingsessen. Vielleicht aber auch Dinge, die ich heute noch nicht erahne. Gegenwärtig beobachten wir eine Abnahme der Industrie-Nahrung, aber Fleisch aus der Petrischale hat viele Argumente auf seiner Seite, es könnte sich als zukunftstauglich erweisen. Daneben entstehen weiterhin viele Hybride zwischen Altbewährtem und neuen Geschmäckern. Etwa bayerischer Schinken, der mit Hilfe eines japanischen Pilzes fermentiert wurde. Solche Hybride gibt es immer öfter.

Wie offen sind die Menschen denn tatsächlich für neue Lebensmittel wie Laborfleisch oder Insekten? Oft genug landet schließlich Brot in unseren Einkaufskörben: ein Nahrungsmittel, das uns seit Tausenden von Jahren vertraut ist.

Kofahl: Esskultur ist konservativ, und Bewährtes verschwindet selten ganz. Gleichzeitig suchen wir nach neuen Geschmäckern, das zeigt die Beliebtheit von inzwischen etablierten Gerichten wie Sushi oder Pizza Hawaii. Den Sonntagsbraten aus echtem Fleisch wird es weiterhin geben, aber bei einer Bratwurst zwischendurch wäre die Variante aus dem Labor eine Alternative. Dafür müssen künftig keine Tiere mehr sterben, und es schont Ressourcen.

Was entscheidet darüber, ob sich Laborfleisch durchsetzen kann?

Kofahl: Wichtig ist, dass keine Ängste geschürt werden so wie etwa bei der grünen Gentechnik. Dazu kommt, dass Produkte heute Zustimmung aus den unterschiedlichsten Perspektiven erfahren müssen, um sich zu behaupten. Im Idealfall sind die Lebensmittel nahrhaft und haben einen gesundheitlichen Nutzen, sprechen den Genusssektor an und werfen keine religiösen oder ethischen Probleme auf.

Was bewegt die Menschen denn vorrangig bei der Wahl ihrer Lebensmittel? Gesundheitliche Aspekte, der Geschmack oder die Moral?

Kofahl: Unsere Umgebung prägt ganz stark, was wir essen. Im Laufe unseres Lebens legen wir daneben oft ganz unterschiedliche Maßstäbe an, mal stehen Gesundheit, Jugendlichkeit, Genuss oder ökologische Aspekte im Vordergrund. Manchmal, aber immer seltener, geht es auch allein ums Sattwerden.

Richten sich die neuen Lebensmittel denn an alle Menschen gleichermaßen?

Kofahl: Männer tendieren eher als Frauen dazu, Fleisch aus dem Labor oder auch Heuschrecken zu probieren, das habe ich gemeinsam mit einem Kollegen untersucht. Höher Gebildete sind ebenso wie religiös orientierte Menschen eher zurückhaltend bei Neuem, wenn es aus dem Labor kommt. Zumindest anfangs. Stadtbewohner sind dagegen tendenziell aufgeschlossener.

Manchmal entsteht der Eindruck, Vegetarier und Veganer seien in der Mehrheit. Tatsächlich stellen sie nur wenige Prozent der Bevölkerung. Und die Fast-Food-Ketten eröffnen ständig neue Filialen.

Kofahl: Die moralischen Argumente der Vegetarier und Veganer finden überproportional viel Gehör, das verzerrt die Wirklichkeit. Zum Menschsein gehören Genuss und Tradition, beim Fleisch spielt beides eine Rolle. Das gilt umso mehr, wenn wir über den eigenen Tellerrand hinausschauen: Global steigt der Fleischkonsum ganz massiv an. In Deutschland ging er ein paar Jahre lang leicht zurück, aber Fleisch gehört für die meisten Menschen noch immer dazu, und so hat dieser Rückgang pro Kopf inzwischen wieder ein Ende gefunden.

Aber künftig könnte doch die Kennzeichnung mit dem Nutriscore dafür sorgen, dass Gerichte wie Currywurst und Fritten von den Speiseplänen verschwinden.

Kofahl: Die Leute werden bei ihren Essgewohnheiten bleiben, doch der Nutriscore wird ihnen dabei ein schlechtes Gewissen bereiten. Im Übermaß ist alles schädlich. Auch wer nur Schwarzbrot isst, leidet irgendwann unter Mangelernährung. Vor diesem Hintergrund fände ich spannender, wenn wir lernen würden, mehr auf unseren Leib zu hören, statt auf das vereinfachte Ampelschema des Nutriscores. Zudem sollten wir auch unseren nicht rationalen Gelüsten einen angemessenen Stellenwert im Alltag gestatten.

Geht die Entwicklung bei der Ernährung voran oder zurück? Biosupermärkte verkaufen alte Apfelsorten, die seit den Zeiten unserer Großeltern in Vergessenheit geraten sind, aber Discounter halten flüssige Astronautennahrung parat, die man nicht einmal mehr zu kauen braucht.

Kofahl: Beides schließt sich nicht aus. Es sind Angebote, die sich sogar an dieselbe Klientel richten können: Mal muss es schnell gehen, dann bieten Fertigprodukte Entlastung –vor allem Frauen, die in der Geschichte lange an die Küche gefesselt waren. Mal nehmen wir uns Zeit zum Kochen und für Genuss. Dass weniger gekocht wird, bedeutet nicht zwangsweise, dass Kochkompetenz verlorengeht. Männer kochen heute öfter als früher.

Die Tiefkühltruhe hatte einen enormen Einfluss auf unser Essverhalten. Sie ermöglichte Unabhängigkeit von der Saison, von der Familie, von festen Essenszeiten. Steht uns eine weitere Revolution wie diese bevor?

Kofahl: Denkbar ist, dass künftig immer öfter 3D-Lebensmitteldrucker die Zubereitung unserer Nahrung übernehmen. Die Zutaten sind dabei wieder frisch und nicht tiefgekühlt, zugleich erlauben die Drucker eine stärkere Individualisierung, weil man jedes Essen an die eigenen Wünsche anpassen kann. Zugleich gibt es heute immer mehr Single-Haushalte, ein jeder kocht für sich. Vielleicht setzen sich künftig Quartiersküchen durch, in denen die Menschen gemeinsam kochen.

Allerdings birgt das Essen mit Fremden stets auch Konfliktpotenzial. Wir nutzen die Ernährung gerne, um andere abzuwerten, man denke an Titel wie Körner- oder Spaghettifresser.

Kofahl: Essen bietet sich dafür an, die Welt zu ordnen: Es ist eine Möglichkeit, Triebe auszuleben, wir tun es alle, und wir tun es täglich. Am Essen und Trinken ist also jeder zu packen. Wer isst wie, was, mit wem und in welcher Menge? Das entscheidet allzu häufig darüber, wie wir über andere denken. Wenn wir über die Zukunft des Essens sprechen, ist auch das ein Thema. Denn hier brauchen wir eindeutig mehr Toleranz.

Zukunft des Essens

„Esskultur ist konservativ“

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Zwischen Wertschätzung und Überfluss



In den Buchhandlungen liegen zu kaum einem Thema mehr Bücher als zum Kochen aus, andererseits landen immer mehr Lebensmittel im Müll. Ein Widerspruch? Hier ein paar Daten und Fakten zum Thema.

Essen und Gesundheit

Im Umfragen geben immer mehr Menschen in Deutschland an, dass ihnen eine gesunde Ernährung am Herzen liegt. In ihrer Ernährungsstudie 2017, für die die Techniker-Krankenkasse 1200 Personen befragte, gab mit 45 Prozent beinahe jeder Zweite an, dass ihm gesundheitliche Aspekte am wichtigsten seien – vor Geschmack, Kalorienzahl oder dem Preis. Drei Jahre zuvor hatten der Aussage „Hauptsache gesund“ nur 35 Prozent der Befragten zugestimmt. Die Studie zeigt auch: Gesundes Essen wird mit zunehmendem Alter wichtiger, beschäftigt Frauen stärker als Männer und Paare eher als Singles.

Essen und Krankheit

Doch auch der Anteil derer, die an einer gesunden Ernährung scheitern, hat zugenommen. Im Langzeitverlauf sind die Fälle von Magersucht deutlich gestiegen, wenngleich der Anstieg in den vergangenen Jahrzehnten abgeflacht ist, wie aus Unterlagen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung hervorgeht. Die Bulimie hat demnach in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stark zugenommen. Auch Fälle von Fettleibigkeit steigen seit Jahren.

Essen als Kostenfaktor

Gaben Haushalte in der Mitte des 20. Jahrhunderts noch die Hälfte ihres Einkommens für Nahrungs- und Genussmittel aus, sind es heute nur noch rund zehn Prozent, die in die Ernährung fließen. Die Kosten für einzelne Produkte sind jedoch starken Schwankungen unterworfen. Die Preise für Obst und Gemüse, Brot und Milchprodukte, Fisch und Fleisch entwickelten sich nach Angaben des Statistischen Landesamts Baden-Württemberg zwischen 2011 und Sommer 2017 stärker nach oben als die Teuerungsrate insgesamt – ein Trend, der sich 2018 fortsetzte.

Essen und Verschwendung

In Deutschland landen jährlich 18 Millionen Tonnen Lebensmittel im Müll. Verantwortlich dafür sind Landwirtschaft, Hersteller, Handel und die Verbraucher. Auf die Privathaushalte entfallen laut Verbraucherzentrale allein 40 Prozent aller Abfälle. Jeder Bundesbürger wirft im Durchschnitt 80 Kilogramm Lebensmittel weg – in der Tonne landen vor allem Obst und Gemüse, gefolgt von Essensresten und Brot.

Essen und Welternährung

Der Hunger in der Welt hat zwar in den vergangenen 20 Jahren abgenommen, aber weltweit hungern noch immer rund 821 Millionen Menschen, vor allem in Afrika und Südostasien. Ursächlich für den Hunger sind laut Welthungerhilfe Kriege, Naturkatastrophen und Armut, aber auch Ressourcenverschwendung in den reichen Staaten und unfaire Handelbedingungen und -abkommen, die zu Lasten von Entwicklungsländern gehen. jul

Info: Mehr Fotos unter morgenweb.de/zukunft

Daniel Kofahl



Dr. Daniel Kofahl (re; 38) hat in Trier Soziologie studiert und beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit Ernährungskultur.

Er ist Gründer des Büros für „Agrarpolitik und Ernährungskultur – APEK“ in Kassel und lehrt als Dozent Ernährungssoziologie an der Universität Wien und der FH des Mittelstands in Köln.

Freie Autorin

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