Die Pfoten des Schäferhundmischlings hängen schlaff über der Kante des Sektionstisches. Von einer Sekunde auf die andere war der Hund umgefallen, tot. Unerklärlich für die Besitzer. Der Mann neben dem Tisch hält ein Wellenschliffmesser in der Hand. Dann geht es los. Der Sektionsgehilfe, ein gelernter Metzger, setzt an. Ein Krachen und die Rippenbögen brechen auseinander. Nach und nach arbeitet er sich vor.
Als das Aufschneiden der Knochen erledigt ist, beugt sich Tierpathologe Ingo Schwabe über die auseinanderklaffenden Körperhälften der Hundeleiche. Er möchte herausfinden, woran das Tier gestorben ist. Als er dessen Bauchhöhle öffnet, flutet Blut über den Sektionstisch. „Das ist jetzt nicht normal“, sagt Schwabe trocken. Das sandfarbene Fell der Hündin färbt sich rot. Ein Schwall Fäulnis wabert durch die Halle. Gut, dass den Besitzern diese Erfahrung erspart bleibt.
Blut, Verwesungsgeruch, gewetzte Messer – daran hat sich Ingo Schwabe längst gewöhnt. Der 47 Jahre alte Familienvater – eckige Brille, weiße Metzgerschürze, grünes Hemd – arbeitet seit 14 Jahren im Chemischen und Veterinäruntersuchungsamt Stuttgart (CVUA) als Tierpathologe. Er hat tote Riesensalamander, Pfeilgiftfrösche, Wölfe und Katzen obduziert, einmal sogar eine Giraffe. Die Wilhelma, der zoologisch-botanische Garten Stuttgarts, liegt quasi um die Ecke. Rund 7000 tote Tiere landen jährlich auf den Sektionstischen der CVUA. Bei etwa 60 Fällen handelt es sich um Straftaten. Tendenz steigend.
Steht der Verdacht im Raum, dass ein Tier getötet oder gequält wurde, wird Schwabe zum Gerichtsmediziner. Er sichert dann Beweise für die Staatsanwaltschaften oder Tierbesitzer und arbeitet somit forensisch. Vor zwei Tagen parkte ein Pärchen seinen Wagen vor dem Eingang des Instituts. Im Kofferraum lag ihr Hundemischling in eine Decke gehüllt. Tot. Die Frau weinte. Nur drei Stunden seien sie weg gewesen, erzählte sie. Als sie zurückkamen, lag der Hund auf der Seite und regte sich nicht. Wie könne das sein? Tierpathologe Ingo Schwabe soll es ihnen sagen.
Tierwohl wichtiger
Die Deutschen nehmen den Tierschutz ernst und bringen viele Fälle zur Anzeige. Das Bundeskriminalamt erfasste im vergangenen Jahr 6527 Verstöße gegen das Tierschutzgesetz. Tiermediziner sagen: Die Zahl der privaten Tierobduktionen steigt. Die Menschen achten stärker auf das Tierwohl, rufen schneller die Polizei und ziehen beherzter vor Gericht. Starb das teure Pferd wegen eines Ärztepfuschs? Wurde die Katze vom Nachbarn vergiftet? Hat der Förster den Hund beim Waldspaziergang angeschossen?
In letzter Zeit beschäftigen Schwabe auch häufiger Fälle sogenannten „Animal Hoardings“, wenn sich vermeintliche Tierliebhaber etwa 30 Katzen in einer Zweizimmerwohnung halten. „Da bekomme ich dann mumifizierte Katzen auf den Sektionstisch, weil die Polizei nach der x-ten Klage endlich mal die Wohnung geräumt hat und festgestellt hat, ups, da sind ja auch Tiere verendet.“ Er muss dann unter anderem herausfinden, wie lange sie schon tot sind. Sorgfalt ist gefragt.
Erst kürzlich war der Tierpathologe zu einem Mordprozess geladen. Ein Dealer hatte eine Frau umgebracht und anschließend die Wohnung angezündet, um die Spuren zu verwischen. Als die Ermittler am Tatort auftauchten, lagen neben der Frauenleiche zwei tote Katzen. Hatte der Täter sie getötet oder starben sie durch das Feuer? Schwabe konnte nachweisen, dass die Tiere an einer Rauchvergiftung starben.
„Die Tierforensik steckt in Deutschland noch in den Kinderschuhen“, sagt Schwabe. In Großbritannien sei es üblich, Tierpathologen zum Tatort dazu zu bestellen. Tiervergehen würden dort viel konsequenter geahndet. So bringt die englische Tierschutz-Organisation „Royal Society for the Prevention of Cruelty to Animals“ regelmäßig Tierschutzverstöße vor Gericht.
In Deutschland hingegen besitzt nur das Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen ein Dezernat für Umweltvergehen. Die allermeisten Straftaten an Tieren werden daher nicht aufgeklärt. Ein zerfledderter Wanderfalke auf dem Acker, ein toter Wolf im Wald – es lässt sich nur schwer zurückverfolgen, wer dafür verantwortlich ist. Bei der Obduktion können Pathologen aber zumindest meistens klären, wie das Tier ums Leben kam.
Ursachenforschung
Neben der Hundeleiche auf Schwabes Sektionstisch in Fellbach liegen jetzt Herz, Leber und Milz nebeneinander aufgereiht. Der Verwesungsgeruch ist in alle Winkel des Raumes vorgedrungen. Die Hündin ist seit zwei Tagen tot. „Ja, so Fleischfresser verbreiten ein spezielles Gerüchlein“, sagt Schwabe gut gelaunt. Schwabe schneidet jetzt die Hauptbronchien auf. „O.B.B.“, sagt er, an seine Assistentin gewandt – ohne besonderen Befund.
Doch mit der Lunge des Tieres stimmt etwas nicht. Eine gesunde Lunge fällt nach dem Todeseintritt in sich zusammen, bei dieser hier sind die Lungenbläschen zerrissen. Es scheint ihnen an Blut gemangelt zu haben. Schwabe beugt sich tiefer über die Hundeleiche. Kann er den rätselhaften Tod klären?
Bringen Menschen ihre verstorbenen Tiere zu Schwabe, hoffen sie fast immer auf Absolution. „Die Frage, ob sie den Tod in irgendeiner Form mitverschuldet haben, führt sie in vielen Fällen hierher“, sagt Schwabe. 130 Euro kostet eine Sektion. Rund 70 Prozent der Tiere auf Schwabes Sektionstisch sind Nutztiere wie Schafe, Rinder, Ziegen.
Die Landwirte gehören zu Schwabes Stammkunden. Ist beispielsweise ein Rind krank, wollen sie wissen, ob auch der Rest der Tiere gefährdet ist. Auch Zoonosen – also Krankheiten, die auch auf den Menschen übertragen werden können – muss der Tierpathologe feststellen. Doch obwohl Untersuchungen von Nutztieren bislang überwiegen, steigt die Zahl der Haustierobduktionen.
Ein Tier wie ein Partner
Als Pathologe bewegt sich Schwabe in einem Spannungsfeld. Viele Halter behandeln die Tiere wie Kinder oder einen Partner: Geht es den Schützlingen schlecht, bricht für sie eine Welt zusammen. Die Besitzer des Mischlings weinten, als sie die Hündin Schwabe übergaben.
Der Tiermediziner versteht das. Er hat selbst einen Zwergdackel. Sein Büro hängt voller Tierbilder, von Kinderhand gezeichnet. Schwimmende Robben, Vogelklauen, ein Bär. Dennoch reagiert Schwabe allergisch, wenn Menschen Tiere dazu benutzen, ihre psychischen Probleme zu bewältigen. Trauernden Tierbesitzern hilft er gern. Hysterischen weniger. „Sie glauben ja nicht, wie viele Menschen zu uns kommen und behaupten, der Nachbar habe ihr Tier vergiftet“, sagt er. Dabei sei es in all den Jahren exakt ein Mal vorgekommen. Schwabes Befunde schaffen dann rasch Klarheit. Er spart den Gerichten Arbeit – die meisten Besitzer sehen nach der Diagnose von einer Klage ab.
Nicht nur Schwabes Obduktionen zeigen, wie wichtig die Arbeit der Tierpathologen für die Gesellschaft ist. Das wird auch am Berufsalltag von Claudia Szentiks deutlich. Wird in Deutschland ein toter Wolf aufgefunden, landet er wahrscheinlich auf ihrem Sektionstisch. Die Tierpathologin vom Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) in Berlin hat allein im vergangenen Jahr 47 Wölfe obduziert.
Aber Szentiks sieht auch größere Raubtiere. Die Pathologin hat vor sechs Jahren Deutschlands bekannteste Tierleiche obduziert: Eisbär Knut. Ein aufwendiger Fall, sagt sie knapp. Sie will lieber über Wölfe reden. Mehr als jedes zehnte Wolf-exemplar, das sie zu sehen bekommt, sei keines natürlichen Todes gestorben, sagt die Tierpathologin. Meistens würden sie erschossen, seltener vergiftet. Wer in Deutschland Wölfe tötet, begeht eine Straftat. Doch um die Täter zu überführen, braucht man Beweise.
Die Obduktion des Mischlings ist beendet. Die Diagnose deutet auf einen bösartigen Tumor in der Milz hin. Der Hund ist auf natürliche Weise gestorben. Schwabe zeigt auf das dunkle Gewebe. „In dem Fall hat uns die Diagnose praktisch angesprungen“, sagt er. Der Tumor habe in die Bauchhöhle geblutet. Dieses Blut habe dann in anderen Gefäßen gefehlt – beispielsweise in der Lunge. Bei dieser Art von Milztumor erkennt man häufig keine Symptome, bis es zu einer Blutung kommt. Es ist ein typischer Hundetumor. Meist wirkt der Hund über längere Zeit einfach etwas müde.
Nicht immer ist die Ursachensuche so einfach. Nachdem Ingo Schwabe die Hygieneschleuse passiert hat, läuft er in Richtung Labor. In der eigentlichen Sektionshalle arbeitet er nur sechs Stunden pro Woche. Die meiste Zeit verbringt er im Labor. „Das hier ist meine schärfste Waffe“, sagt er und deutet auf das Lichtmikroskop.
Beweise zählen
Seine Befunde und Gutachten müssen gerichtsfest sein. Deshalb gilt es, anhand von Gewebeproben Beweise zu sichern. Ein typischer Fall: Ein Rennpferd ist tot, die Besitzer verklagen den Tierarzt wegen Behandlungsfehlern. Die Tiere kosten viel Geld und sind entsprechend hoch versichert – Summen von bis zu einer Million Euro sind nicht unüblich. Vor Gericht geht es dann häufig um folgende Frage: Starb das Pferd wegen Dopings oder hat der Arzt Fehler gemacht, etwa einen Tupfer vergessen?
Dass Tierarten eine unterschiedliche Anatomie aufweisen, macht es nicht einfacher. Gerade wenn es um die Bestimmung des Todeszeitpunktes geht, bleiben Fragen offen: Während etwa der Temperaturabfall des Menschen nach Eintritt des Todes immer gleich verläuft, fällt er bei verschiedenen Tierarten und Rassen unterschiedlich aus.
Gewebeproben legt Schwabe 24 Stunden in Formalin ein, um deren Zersetzung zu stoppen. Dann entwässert der Tiermediziner das Gewebe, durchtränkt es mit Paraffinwachs, schneidet es schließlich in drei bis fünf Mikrometer dicke Scheiben und färbt es. Unter seinem Lichtmikroskop kann er die Präparate dann in tausendfacher Vergrößerung betrachten. Das ist zwar aufwendig. Doch es dient nun einmal der Wahrheitsfindung.
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/leben/erleben_artikel,-reportage-woran-starb-der-liebling-_arid,1231740.html