Folgen der Ein-Kind-Politik

Was fehlt, ist eine Frau

Jahrzehntelange Ein-Kind-Politik, ein höherer Stellenwert von Söhnen: Längst bekommt China die Folgen zu spüren. Millionen Männer sind Single und viele werden es bleiben, vor allem die ärmeren Menschen auf dem Land. Chuan ist einer von ihnen. Aber Träume hat er noch.

Von 
Daniela Schröder
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Enge Oberteile. Zarte Kleidchen, Goldketten baumeln den Ausschnitt hinab. Miniröcke, Jeansshorts, schlanke Beine auf Bleistiftabsätzen. Schwarze, wie Seide glänzende Haare. Kirschrote Lippen. Porzellanteint. Chuan fingert eine Zigarette aus der zerknautschten Packung, seine Augen glänzen.

Chuan steht vor der Baima Wangchao Karaoke-Bar in Lingshui, es ist ein Dienstagabend kurz vor zehn, er saugt an der Zigarette, sein Blick klebt an den jungen Frauen, die neben ihm aus zwei Taxen steigen. Zhou Chuan, 39 Jahre, Single, blaugraue Stoffhose und hellblaues Kurzarmhemd, kleiner Bauchansatz, um die einssiebzig groß, rotbraun gebrannt, frisch rasiert. Die Frauen zupfen Haarsträhnen und Kleider zurecht, ziehen Lippenstift nach, trippeln an Chuan vorbei zum Eingang der Bar. Männer in schmalen Anzügen stehen dort und rauchen, die Frauen tuscheln und kichern.

Chuan tritt die Zigarette aus, dann geht er zu einem Grillimbiss. Junge Männer, Familien und Pärchen knabbern Fleisch von Spießen, Chuan setzt sich an einen Tisch am Rand, die Kellnerin bringt eine Flasche eiskaltes Bier, dazu ein Schüsselchen mit Salzgurke, Orangenscheiben, Wassermelonenwürfeln. „Xiè xiè“, Danke, sagt Chuan leise und guckt zu ihr hoch, er sieht nur einen wippenden Pferdeschwanz und das Imbiss-Logo auf dem schmalen T-Shirt-Rücken.

Vier Biere später legt Chuan ein paar Scheine auf den Tisch und geht. Als er auf sein altes Mofa steigt, fallen ihm kurz die Augen zu, er gähnt laut und lang, schüttelt sich wie ein nasser Hund. Chuan steuert das Mofa hinaus aus der blinkenden, hupenden Stadt, über Landstraßen, über Feldwege. Die Nacht schluckt das Rücklicht, die Nacht schluckt Chuan. Am nächsten Morgen, als der Hahn das erste Mal kräht, wacht Chuan auf. Sein Mund ist trocken, an seinen Schläfen pocht ein Schmerz, Chuan gräbt das Gesicht in sein geblümtes, fleckiges Kopfkissen und erinnert sich daran, was er geträumt hat in dieser kurzen Nacht. In dem Traum, so wird er später erzählen, schaute ihm die Grill-Kellnerin in die Augen, lächelte ihn an, sie saß auf dem Rücksitz des Mofas, die Arme um seine Hüften, das Kinn auf seiner Schulter, so fuhren sie in die Nacht.

Wie ging der Traum weiter, Chuan? Chuan wird auf den Boden schauen, der Übersetzer wird keine Miene verziehen. „Das kann man sich doch denken“, wird er auf Englisch flüstern. Dabei versteht Chuan kein Englisch, auch kein Mandarin, seine Sprache ist einer der zig lokalen Dialekte auf Hainan.

Hainan ist die kleinste und südlichste Provinz Chinas, ein Anhängsel am unteren Zipfel des Landes. Das Klima ist tropisch, nicht nur jetzt im schwülheißen Regenmonat Juni. Vom Bahnhof der Kreisstadt Lingshui fährt zwei Mal am Tag ein Bus in Chuans Dorf. Po Cun liegt hinter einem Berg, nur 20 Kilometer und knapp zwei Bummelbusstunden trennen die Großstadt vom Dorf. Gefühlt sind es zweihundert Jahre.

Jenseits der Großstadt

Chuan lebt am Rande des Dorfes Po Cun, einige Dutzend weit verstreuter Höfe. Den Hof, zwei flache graue Häuser, Küchenhäuschen, Hühnerschuppen, teilt er sich mit seinen Brüdern und einem Onkel. Zhou Wen ist 44 Jahre alt, Zhou Yong 42, Zhou Lian 40, der Onkel Zhou Chuan ist 55. Keiner der fünf ist verheiratet, alle sind Single. Eine Männer-Familie auf dem Land.

Wobei die Zhuos keine Ausnahme sind. Im Gegenteil. Im Dorf Po Cun, gut 3000 Einwohner, leben 300 unverheiratete Männer zwischen 30 und 60. Und auch Po Cun ist kein Sonderfall, auf ganz Hainan gibt es Dörfer mit zig Dutzend Junggesellen. „Guang gun“ werden sie im Chinesischen genannt. „Kahle Äste“, an denen kein Blatt wächst.

China weist einen extremen Männerüberschuss auf. In ihrer jüngsten Statistik berichtet die Regierung von 33,6 Millionen mehr Männern als Frauen im knapp 1,4-Milliarden-Menschen-Staat, das stärkste Ungleichgewicht verzeichnen ländliche Provinzen wie Hunan, Guangxi, Guizhou, Hebei, Nirgendwo ist das Geschlechterverhältnis so unausgeglichen wie auf Hainan. In den vergangenen Jahrzehnten kamen auf 100 neugeborene Mädchen statistisch gesehen stets um die 130 Jungen – Folge des seit jeher höheren Stellenwerts von Söhnen. Während der 35 Jahre lang praktizierten Ein-Kind-Politik ließen Ehepaare in China zig Millionen Mädchen abtreiben. Heute fehlen dem Land und seinen Männern die Frauen. Mädchen sind“’verschüttetes Wasser“ heißt es in vielen ländlichen Regionen.

„Aufstehen, Ihr Säcke!“

Als die Sonne in Chuans Zimmer scheint, steht der blaue Blechwecker im Fenstersims auf halb acht. Chuan schält sich aus der dünnen Decke, er trägt die Sachen vom Abend zuvor. „Aufstehen, Ihr faulen Säcke!“ ruft Chuan und wirft einen seiner Schlappen zwischen die Brüder und geht über den Hof, Frühstück machen.

Die Küche ist ein niedriger Steinschuppen mit Lehmboden, von der Decke baumelt ein Kabel mit flackernder Glühbirne, in Holzregalen Töpfe und Pfannen, dunkel angelaufen, zerbeult, fettfleckig. Auf einem Gaskocher brodelt eine helle Masse im Topf, Reisbrei. Chuan dreht die Flamme runter, gießt ein bisschen Wasser in den Brei, rührt mit einem Hackmesser immer wieder durch.

Die Brüder und der Onkel warten im Wohnzimmer, ein Ventilator rührt durch die klebrige Luft. Das Wohnzimmer ist der dritte Raum im Haus. An der Wand ein unbenutzter Abreißkalender und ein goldgerahmtes Bild des Staatsgründers Mao Zedong.

„Eigentlich Frauenarbeit“

„Frühstückmachen ist Frauenarbeit“, sagt Wen. „Bei uns kümmert sich derjenige darum, der als Erster aufsteht.“ Er gießt Tee in schlierige Gläser. „Vor ein paar Jahren habe ich einige Monate in Lingshui gearbeitet“, erzählt er und zündet sich die nächste Zigarette an. „Dort habe ich ein Mädchen kennengelernt, wir sind zusammen ausgegangen und so. Irgendwann ist sie mit mir nach Po Cun gefahren, um unseren Hof zu sehen. Als wir zurück in der Stadt waren, war sie plötzlich weg. Ich habe nie wieder etwas von ihr gehört.“

Auf dem Nachbarhof der Zhous steht ein Sanitärhäuschen mit Bodenklo und rostiger Duschbrause, die Männer dürfen es nutzen, ihr eigenes ist seit vielen Jahren im Bau. Die Nachbarin ist 57, seit vier Jahren Witwe, ein Sohn, 31, auch er ein Junggeselle. „Warum sollte eine junge Frau heute hier leben wollen? Ein Mädchen, das schlau ist, zieht in die Stadt.“

Ein chinesischer Wirtschaftsprofessor hat vorgeschlagen, den Männerüberhang offensiv anzugehen: Liegt die Nachfrage über dem Angebot, sei das Angebot zu rationieren – mehrere Männer teilen sich eine Frau. Zufriedene Männer seien wichtiger als die Moral, argumentierte der Ökonom, die monogame Ehe gehöre abgeschafft. Gewinner der Krise sind die gut 1000 Sexpuppen-Hersteller im Land. Bis vor einigen Jahren produzierten sie vor allem für den Export, nun wächst der Umsatz im eigenen Land.

Populär ist auch die Import-Option: junge Frauen aus ärmeren Nachbarländern, aus Myanmar, Laos, Nordkorea, Vietnam. Ganze Busladungen Vietnamesinnen kommen in chinesischen Dörfern an und heiraten. Manche Ehen halten, zugleich gibt es zig Medienberichte über Importbräute, die kurz nach der Hochzeit spurlos verschwinden, im Gepäck nichts außer einige Kleidungsstücke, Papiere – und ihre Mitgift.

Mehr Frauen als Männer im Land, das bedeutet für eine patriarchalische Gesellschaft einen drastischen Wandel. Bei der Partnerwahl sind es nun die Frauen, die entscheiden. Und weil die Auswahl groß ist, wählen sie unter den Interessenten den attraktivsten aus. Den mit dem meisten Geld. „Mit dir Fahrradfahren? Lieber weine ich auf dem Rücksitz eines BMW,“ bügelte eine junge Frau den Kandidaten einer populären Verkuppel-Fernsehshow ab.

Der Satz spiegelt die Lage im Land. Früher waren alle arm, die Menschen heirateten aus Liebe. Chinas rasanter Aufstieg materialisierte auch die Beziehung zwischen den Geschlechtern. Verlierer sind die Habenichtse auf dem Land.

Yong, Lian und Onkel Chuan gehen zur Arbeit. Ein Reisfeld bewirtschaften sie, zwei liegen brach, ein paar Schweine gab es früher mal, die haben sie irgendwann geschlachtet. Etwa 30 000 Yuan, gut 4000 Euro, bringt die Landwirtschaft den fünf zusammen im Jahr ein. Die Reisfelder in Schuss bringen, mehr Früchte anbauen, das ist für sie kein Thema. „Warum sollten wir mehr Geld verdienen als wir brauchen?“ fragt Lian. „Für wen denn?“

Es ist ein Teufelskreis. Wer arm ist, findet keine Frau und kann keine Familie gründen. Auch die psychologischen Folgen des unfreiwilligen Junggesellentums auf dem Land sind für die Forschung bereits ein Thema. Die Zahl der Männer ohne Frauen wird in China weiter wachsen. Statistiker rechnen damit, dass spätestens 2040 fast 50 Millionen Junggesellen im Land leben. Ein Männerüberschuss, wie ihn noch kein Staat erlebt hat.

Rauchen und dösen

Wen, Lian und Yong liegen in den Hängematten, die Hemden haben sie auf die Brust hochgerollt, ihre Fußnägel sind braunschwarz, die Haare strähnig. Yong raucht, Wen füllt Lottoscheine aus, Lian döst. Der Hund schnappt nach einer Fliege. Wen gähnt, Yong raucht, Lian schläft. Der Übersetzer zeigt Wen wie eine Flirt-App auf dem Smartphone funktioniert, die beiden flüstern und lachen. Wen streicht behutsam über das Gerät, so ein modernes Telefon hat im Dorf niemand.

Die Brüder fassen einen Plan. Ins Dorf fahren, lautet er, ein bisschen spielen, bisschen Bier trinken. Onkel Chuan will zu Hause bleiben. „Ich muss endlich waschen.“ Er stopft ein Bündel Klamotten in einen Eimer, stellt ihn unter den Wasserhahn, dreht den Hahn auf. Dann geht er ins Wohnzimmer, legt sich aufs Sofa. Er schaltet den Fernseher ein.

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