Von Tür zu Tür

Zuletzt schafften sie es immer wieder in die Abendnachrichten: Paketboten. Was verlangt ihnen ihre Tätigkeit ab? Wie viel erfahren sie über die Menschen, die sie beliefern? Und gibt es so etwas wie den idealen Empfänger? Unsere Autorin hat einen Zusteller bei der Arbeit begleitet.

Von 
Julia Lauer
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Das Arbeitspensum, das an diesem Tag vor Otto Horvat liegt, befindet sich morgens um kurz vor zehn Uhr noch hinter seinem Rücken: 180 Pakete. Leichte und schwere, handliche und sperrige sind darunter. Er ist um acht Uhr zum Dienst angetreten, gut anderthalb Stunden hat er gebraucht, um seine Fracht in den Regalen des gelben Lieferwagens nach Straßenzügen und Hausnummern zu sortieren, sodass er sie der Reihe nach ausfahren kann. Horvat sitzt auf dem Fahrersitz. Er ist, vom Depot kommend, in das Gebiet gefahren, für das die Lieferungen bestimmt sind. Die Zustellung kann beginnen, und ich steige zu. Einen Tag lang begleite ich ihn.

Am Anfang stehen viele Fragen: Was ist das für ein Beruf, Pakete zuzustellen? Wie viel bekommt man vom Leben der Menschen mit, wie benehmen sie sich? Kommt es vor, dass ein Paketzusteller ebenso sehnlich erwartet wird wie der Briefträger in dem Beatles-Song „Please Mr Postman“? Oder ist es vielmehr eine elende Plackerei, den Leuten ihre Internet-Bestellungen bis unters Dach zu hieven? Die Abendnachrichten der vergangenen Monate lassen eher auf Letzteres schließen. Zuletzt ging es darin um kaum einen Beruf so häufig wie um den der Paketzusteller. Von deren Arbeitsbedingungen war die Rede, von Ausbeutung, schlechten Löhnen und zweifelhaften Subunternehmen.

Ein Tag, 180 Lieferungen

Als ich zusteige, liegen also 180 Pakete im Wagen, 180 Pakete von zwölf Millionen, die im Durchschnitt jeden Tag in Deutschland zugestellt werden. „Ich mag die Mobilität und habe viel Bewegung“, sagt Horvat, der in Wirklichkeit anders heißt, über seinen Beruf. Weil er mich spontan und ohne viel bürokratisches Aufheben mitnimmt, möchte er nicht, dass sein wahrer Name in der Zeitung steht. Besonders unglücklich wirkt Horvat nicht. Später, als sein Arbeitstag weiter fortgeschritten ist, klingen aber auch andere Töne an. Seine Tätigkeit sei monoton, wird er dann sagen, und sie strenge ihn mitunter sehr an. Körperlich wie emotional. Andererseits, sagt er, könne er sich aber auch kaum vorstellen, im Büro Tag für Tag acht Stunden lang vorm Rechner zu sitzen.

Horvat kann immer nur in kurzen Sequenzen erzählen, länger als eine halbe Minute dauert kaum eine Fahrt. Alle paar Meter hält er, holt die Lieferungen hervor und wenn nötig die Sackkarre. Stellt die Pakete zu und schwingt sich zurück auf den Fahrersitz, nur um ein paar Meter weiterzufahren. Stop and go, stop and go, so geht es den ganzen Tag. Abends, erklärt er, sei er oft zu k.o., um noch Sport zu treiben. An einer Sache jedenfalls lässt Horvat trotzdem keinen Zweifel: Er will kein Mitleid, sondern Bewunderung.

Man bekommt vieles mit

Horvat parkt den Wagen vor einem Einkaufszentrum und springt hinaus in den sonnigen Tag, er hat Lieferungen für den Tabakladen und für das Schuhgeschäft. Dass oft viele Pakete auf einen Schlag an einen Empfänger gehen, ist ein Vorteil von Gewerbegebieten, außerdem sind Firmen rund um die Uhr besetzt. Hier werden wir die ersten Pakete los. Ähnlich zügig geht es im Fitnessstudio und im Baumarkt weiter.

Das Bordell passieren wir an diesem Tag ohne Zwischenstopp. „Dort bestellen sie auch bloß Espresso“, weiß Horvat aus Erfahrung. Der Inhalt der Pakete interessiert ihn eigentlich nicht, wie er beteuert. Aber er kriegt eben doch vieles mit. Dazu gehört auch, wie Leute leben. Er hat Anwesen gesehen, die Normalsterbliche so gut wie nie betreten. „Das steht ein weißer Ferrari in der Garage und man fährt mit dem Aufzug nach oben, im Wohnzimmer steigt man aus.“ Aber er kennt auch andere Leben, er weiß nach all den Jahren, wo Alkoholiker zu Hause sind, und er kennt die Häuser, bei denen er lieber die Luft anhält, bevor er sie betritt.

Damit er meinetwegen keine Zeit verliert, laufe ich mit und helfe, die Sackkarre zu schieben. Denn Horvat ist unter Zeitdruck: Die Pakete sollen ihre Empfänger schließlich alle an diesem Tag noch erreichen. Manchmal dauert sein Tag acht Stunden, manchmal zehn – was aber nur deshalb überhaupt im Bereich des Möglichen liegt, weil Horvat die Route vertraut ist, er die Straßennamen kennt, weil er schon weiß, wo sich im Baumarkt die Paketabnahme befindet. Dennoch sagt er: „Einen gewissen Stresspegel hat man eigentlich immer.“

Horvat – sportlich, sympathisch, jugendliches Gesicht – arbeitet seit mehr als 20 Jahren als Paketzusteller, wenn auch mit Unterbrechungen. Nach dem Abitur fing er damit an, finanzierte so sein Studium. Seither ist einige Zeit ins Land gegangen, doch der Branche ist er treu geblieben. Er schätze die Arbeit an der frischen Luft, sagt er, und er komme viel herum. Außerdem gefällt es ihm, den ganzen Tag lang für sich zu sein und nicht unentwegt unter der Beobachtung eines Chefs zu stehen.

Horvat kennt die Debatten um seinen Beruf. Im Februar dieses Jahres beklagte Frank Bsirske, Chef der Gewerkschaft ver.di, „zum Teil mafiöse Strukturen“ der Paketbranche. Oft setzten Subunternehmen Menschen aus der Ukraine, aus Moldawien oder aus Weißrussland in die Lieferfahrzeuge. Vielfach erhielten sie gerade einmal fünf oder sechs Euro die Stunde, kritisierte er. Im März kündigte Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) an, die Missstände in der Paketbranche zu beheben. Noch in diesen Herbst wolle er Maßnahmen auf den Weg bringen. Damit will er vor allem der Hinterziehung von Sozialversicherungsbeiträgen einen Riegel vorschieben.

Horvat beklagt sich nicht. Er ist bei DHL beschäftigt, dem Paketdienst der Deutschen Post. Sein Arbeitgeber zahlt Neueinsteigern in seinem Gebiet 13 Euro 88 brutto die Stunde. Dass sein Verdienst nach all den Jahren nicht wesentlich darüber liegt, sei eben dem Umstand geschuldet, dass er lange nicht festangestellt gewesen sei, erklärt er. Aber Überstunden würden bezahlt, und er sei kranken- und rentenversichert. Natürlich hätte er nichts dagegen, sein Stundensatz wäre zwei, drei Euro höher.

Um halb zwölf, nach eineinhalb Stunden, sind noch 138 Pakete an Bord. Oder anders gesagt: Rund ein Viertel der Pakete hat noch vor Mittag einen neuen Besitzer gefunden. Läuft doch wie am Schnürchen, denkt der Unwissende. Horvat aber gönnt sich trotzdem keine richtige Pause, er verschlingt sein Käsebrötchen bei einem kurzen Halt im Wagen. Nur selten nehme er sich die Zeit für eine richtige Mittagspause, sagt er.

Und noch einen anderen Zeitfresser spart er an diesem Tag aus, ein Studentenwohnheim. Da müsste man erst die Straße überqueren, klingeln, warten: sechs Minuten für ein einziges Paket, schätzt er. Die Verpackung zeigt einen Ventilator. Der Empfänger könne darauf auch bis zum nächsten Tag warten, beschließt Horvat. Erst wenn es zwei oder drei Sendungen für diese Adresse gibt, lohnt der Stopp.

Viele Retouren

Um kurz nach 14 Uhr fahren wir durch ein Wohngebiet, gemeinsam mit noch immer 87 Paketen. Horvat ist der Meinung, die Leute bestellen insgesamt zu viel. Manchmal händige er eine Lieferung aus, und die Empfänger schickten gleich wieder drei frühere Sendungen über ihn zurück. Befremdlich, wie gedankenlos die Menschen Ware ordern, findet er. Zudem habe sich doch herumgesprochen, dass die Retouren zum Teil vernichtet werden.

Hin und wieder bestellt aber auch Horvat im Internet. Manchmal hat er die Wahl, welcher Zustelldienst die Ware bringen soll. Dass der Preis auch für ihn ein Thema ist, versteht sich von selbst: „Es macht einen Unterschied, ob ich fünf oder sieben Euro für die Lieferung zahle.“ Wenn er einen Zustelldienst wählt, der wegen schlechter Arbeitsbedingungen in Verruf geraten ist, und er den Boten antrifft, gibt er ihm ein Trinkgeld.

An diesem Tag sind die wenigsten Lieferungen klein genug, um in den Briefkasten zu passen. Aber es läuft gut, viele Leute sind zu Hause, sie sind freundlich, außerdem kommen sie Horvat im Treppenhaus entgegen. Das ist ihm wichtig. Für mich ist das die entscheidende Lektion des Tages: Für einen Akt der Mitmenschlichkeit reicht es nicht aus, Pakete für die Nachbarn anzunehmen. Wer es auch gut mit dem Zusteller meint, muss sich im Treppenhaus auf ihn zu bewegen. Das gilt erst recht dort, wo viele Treppenstufen zu überbrücken sind.

Horvats Arbeitgeber hält ihn zwar eigentlich dazu an, die Ware bis zur Wohnungstür zu bringen. Aber an manchen Tagen, erzählt er, bitte er die Empfänger an der Klingel darum, ihm ein paar Schritte im Treppenhaus entgegenzukommen: „Der Weg nach oben kostet Kraft.“ Zumal er mitunter schwer zu tragen hat; bis zu 31,5 Kilogramm dürfen Paketsendungen wiegen. Wenn Horvat die Empfänger antrifft, scherzt er manchmal kurz mit ihnen: „Sie kochen heute also mit Knoblauch?“, fragt er, während sie den Erhalt der Lieferung quittieren.

Um 15 Uhr 30 sind es noch 36 Pakete. Das ständige Ein- und Aussteigen, Treppe hoch, Treppe runter: Meine Kräfte schwinden, doch falls auch Horvat erschöpft ist, kann er es gut verbergen. Wieder parkt er, diesmal vor einem Wohnblock, offenbar wurde hier ein Umzug von Asien aus per Post gemacht. Der Aufzug ist kaputt, Horvat trägt die Pakete der zierlichen Frau nach oben. Als er sie fragt, ob sie ein kleines Päckchen für den Nachbarn annehmen kann, sagt sie nein. Horvat akzeptiert ohne jegliche Regung. „Man kann niemanden zwingen, für jemand anderen ein Paket anzunehmen.“

Nachbar oder Abholschein

Diese Frau bleibt die Ausnahme, alle anderen Nachbarn kooperieren. Doch sie aufzusuchen, kostet Zeit. „Jeden Tag kommt der Punkt, an dem ich nicht mehr bei den Nachbarn klingle und stattdessen einen Abholschein in den Briefkasten werfe“, sagt Horvat.

Ein Junge strahlt, als Horvat ihm sein Paket aushändigt. Es ist sein zehnter Geburtstag, wie er zwischen Tür und Angel erzählt. Der Bote strahlt zurück. Eine Frau drückt Horvat ein Zwei-Euro-Stück als Trinkgeld in die Hand, was ihn als Zeichen der Wertschätzung sichtlich erfreut.

Um 17 Uhr 37 sind es noch sechs Pakete, die zu ihren Empfängern wollen. Horvat ist längst dazu übergegangen, sie ohne meine Mithilfe zuzustellen. Meine Beine streiken, ich bleibe im Auto sitzen.

Um 17 Uhr 51 hat Horvat es geschafft. Jetzt muss er die wenigen Pakete, die er nicht zustellen konnte, sowie die Retouren abgeben, außerdem den gelben Lieferwagen. Wenn er abends manchmal völlig erschöpft auf dem Sofa sitze, sagt er, sei er dennoch zufrieden. „Wahrscheinlich ist das eine Art Läuferhoch“, sinniert er, jenes Hochgefühl also, das Sportler nach Langstreckenläufen erleben.

Wie es sich an diesem Feierabend mit Horvats Läuferhoch verhält, bleibt abzuwarten. Meine Bewunderung jedenfalls ist ihm jetzt schon gewiss.

zahlen und Fakten

In der Kurier-, Express- und Paketdienstbranche sind in Deutschland 238 000 Menschen beschäftigt.

3,52 Milliarden Sendungen wurden 2018 verschickt. Das entspricht zwölf Millionen Sendungen je Zustelltag – Tendenz steigend. Das größte Arbeitsaufkommen fällt in die Weihnachtszeit.

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