Friedlich nebeneinander stehen sie im großen Hof der Schule. Die Moschee, die christliche Kirche, ein Buddha- und ein Hindutempel. Die vier kleinen Sakralbauten symbolisieren das Herzensanliegen dieses Ortes in Medan, der Hauptstadt Nordsumatras. Fast 3000 Kinder lernen zurzeit an der „Yayasan Perguruan Sultan Iskandar Muda“ neben dem klassischen Unterrichtsstoff das friedliche, respektvolle Miteinander von Religionen und Kulturen. Es ist ein bis jetzt einmaliges Schulexperiment im Land, in dem weltweit die meisten Muslime leben.
Die Geschichte des außergewöhnlichen Schulprojektes beginnt mit einem Trauma. Sofyan Tan (Bild), Indonesier mit chinesischen Wurzeln, dessen Familie seit vielen Generationen im Land ist, wächst in armen Verhältnissen als Sohn eines bankrotten Schneiders auf. Als einziges von zehn Geschwistern darf er studieren und entscheidet sich für Medizin. Die buddhistische Familie erlebt das grausamste Kapitel in der jüngeren indonesischen Geschichte.
Beispielloses Töten
1965 putscht sich General Suharto an die Macht. Sofyan Tan ist damals im Kindergarten. Suharto behauptet, das Land vor einer kommunistischen Machtübernahme bewahren zu wollen. Wer im leisesten Verdacht steht, kommunistisch zu sein, wird verfolgt. Es geht auch um die Ausschaltung der Opposition. Es beginnt ein Töten, an dem sich neben der Armee auch Verbrecherbanden sowie militante muslimische und christliche Gruppierungen beteiligen, um ihre Feinde zu beseitigen. Insgesamt werden in den 31 Jahren Suharto-Diktatur vermutlich über 500 000 Zivilisten ermordet, vor allem in den Jahren 1965 und 1966.
Unter ihnen sind auch Zehntausende Chinesen. Ihnen gegenüber schwingt bei den Mördern ein tief verwurzelter Hass mit, Chinesen werden aber auch deswegen Opfer, weil sie aus einem kommunistischen Land stammen. Ob sie tatsächlich Kommunisten sind oder nicht, spielt dabei keine Rolle. Ebenso wenig, dass viele ja gerade wegen des politischen Systems aus dem Reich der Mitte geflohen sind, und dass sie oft seit Generationen in Indonesien leben. Auch nach Suhartos Rücktritt Ende 1998 hört der Terror nicht auf.
Nachbarn geben Rückhalt
Auch Sofyan Tan erlebt die Diskriminierung am eigenen Leib. Als Medizinstudent lässt man ihn an der Universität in Medan mehrmals durch wichtige Examen fallen – allein wegen seiner chinesischen Abstammung, wie er sagt. „Zudem gab es als ungeschriebenes Gesetz eine Zulassungsbeschränkung für Studenten chinesischer Herkunft“, erzählt Sofyan Tan.
Doch das Schlimmste bleibt ihm und seiner Familie erspart. Sie erfahren oft den Rückhalt ihrer Nachbarn. Nachdem im Quartier ein Mann chinesischer Herkunft ermordet wird, stehen plötzlich Indonesier verschiedenster Religionen und Kulturen im Garten und beschützen ihr Haus. Beispielhaft auch diese Geschichte, die Sofyan Tans Sohn Felix Harjatanaya erzählt. Er erinnert sich an die Beerdigung seines Großvaters: „Nach dem Tod meines Großvaters, des Vaters meines Vaters, kamen Menschen aller Religionen und Ethnien zur Trauerfeier.“
Hinter all dem steckt die gelebte Überzeugung, dass ein friedliches Zusammenleben nur möglich ist, wenn Barrieren zwischen Ethnien und Religionen abgebaut werden und gegenseitigem Respekt Platz machen. So lebt es auch die Familie von Sofyan Tan. Ihr Haus stand und steht noch heute allen offen. Tan ist davon überzeugt, dass seine Familie die Unruhen und das Morden nur überlebte, weil sie sich nicht abkapselte und versuchte, zu allen eine freundschaftliche Beziehung aufzubauen. Schlüsselerlebnisse, die zu einem in Indonesien einmaligen Schulprojekt führten. Eine Schule mit zwei Hauptzielen, sagt Sofyan Tan: „Armutsbekämpfung durch qualitativ gute Bildung sowie Erziehung zu einer pluralistischen Gesellschaft, zu Toleranz, Menschlichkeit und gegenseitigem Respekt.“
Sofyan Tan finanzierte sein Medizinstudium mit Nachhilfeunterricht, entdeckte sein Talent als Lehrer, schloss erfolgreich ab und wurde Arzt. Dazu sagt er: „Als Sohn aus einer armen Familie ein vergleichsweise gutes und sicheres Einkommen zu haben, bedeutet viel.“ Trotzdem verließ er den sicheren Pfad und übte den Beruf nie aus. Seine „Traumschule“ war ihm viel wichtiger. Um die Schule zu bauen, bettelte er bei seinen Verwandten und Freunden um Geld und überzeugte Banken von der Idee. Trotzdem reichte es am Anfang nicht einmal, um die Betriebskosten zu decken. Weil die Kinder schon damals aus armen Familien stammten, traf das Schulgeld nur in homöopathischen Dosen ein. Sofyan Tans Schulden hingegen erreichten bald astronomische Summen. „Doch ich gab die Hoffnung nie auf. Ich bin davon überzeugt, dass die Schule ein Ort sein kann, um den Grundstein zu legen für ein besseres Leben und für soziale Gerechtigkeit.“
Partnerschaften für ein Kind
Am Anfang, als der erste bescheidene dreistöckige Bau steht, fährt er in umliegende Dörfer, sucht in den Familien armer Menschen nach talentierten Schülern und motiviert deren Eltern, sie an seine Schule in Medan zu schicken, die am 25. August 1987 eingeweiht wird. Er geht nach dem Prinzip von Patenschaften vor: Private und Firmen übernehmen die Schulkosten für ein Kind oder sogar für mehrere Kinder.
Die Idee stößt bis in höchste Regierungskreise auf große Sympathie. Bereits 1994 adoptiert der damalige Forschungsminister B.P. Habibie 25 Schüler und spendet 25 Millionen Rupiah. Andere folgen seinem Beispiel. Heute besteht die Schule aus mehreren großen Gebäuden mit insgesamt 65 Zimmern samt einer schuleigenen kleinen Klinik, an der Studenten gratis behandelt werden. Sie steht auch Außenstehenden offen, die jedoch für die Behandlung bezahlen müssen – allerdings nur einen freiwilligen Beitrag. 230 Lehrkräfte arbeiten hier. Bis jetzt sind weit über 3000 Schülerinnen und Schüler „gesponsert“ worden.
Wie die Idee des multikulturellen Konzeptes im Unterrichtsalltag praktisch umgesetzt wird, zeigt ein Besuch im Klassenzimmer. Da sitzen Mädchen mit und ohne Kopftuch; abgesehen von der Schuluniform gibt es keine Kleidervorschriften. Mädchen sitzen neben Knaben, ein chinesisch-stämmiger Bub neben einem Einwandererkind aus Indien. Edy Jitro Sihombing, Leiter der Oberstufe, erklärt: „Wir versuchen die Schüler zu motivieren, unabhängig von Rasse und Religion nebeneinander zu sitzen.“ Wo immer möglich werde die Geisteshaltung der Schule in die Pflichtfächer integriert.
„Wir lehren die Schüler auch, dass Indonesien nicht durch eine einzige Ethnie, eine einzige Religion von der Kolonialherrschaft befreit worden ist, sondern durch den gemeinsamen Kampf.“ Einblicke in die Lebensweise der vielen Kulturen Indonesiens gehören ebenso zum Stoff wie Zusammenkünfte mit den Lehrern der vier Hauptreligionen.
„Als Muslime, Christen, Hindus und Buddhisten diskutieren wir jeweils darüber, was uns eint, und nicht darüber, was uns trennt. Wir lehren, dass die Religionen in den Grundzügen dieselben Prinzipien haben. Nächstenliebe etwa. Dieses gemeinsame Gedankengut fließt auch in den Religionsunterricht ein.“ Weil die Schule für jede dieser Religionen ein Gotteshaus gebaut hat, können alle an den großen Festen der Andersgläubigen teilnehmen und erhalten so gegenseitige lebendige Einblicke in das kulturelle und spirituelle Leben. Letztlich gehe es darum, das nationale Leitmotiv Indonesiens zu implementieren: „Bhinneka Tunggal Ika“, was soviel heißt wie Einheit in Vielfalt.
2014 gab Sofyan Tan mit 55 Jahren die Schulleitung ab. Er wurde für die Demokratische Partei ins nationale Parlament gewählt. Als Mitglied der parlamentarischen Bildungskommission versucht Tan nun, seine Ideale auf nationaler Ebene umzusetzen. Zudem engagiert er sich im Umweltschutz.
Hoch gesteckte Ziele
Die Schule in Medan hat jedenfalls hoch gesteckte Ideale. Ihr Gründer ist mehrfach ausgezeichnet worden. Doch gibt es auch Hürden. Schulleiter Edy Jitro Sihombing nennt eine davon: „Die Kinder kommen aus sehr unterschiedlichen Familien. Es gibt Familien, die eine andere Religion und eine andere Kultur nicht akzeptieren.“ Zu Hause werde oft das Gegenteil von dem gelebt, sagt er, was die Schule den Kindern mitgeben will.
Wie sieht die Bilanz nach 30 Jahren aus? Sofyan Tan spricht zunächst stolz von den über 17 000 Kindern, die bis jetzt seine Privatschule durchlaufen haben. Nicht wenige der inzwischen erwachsenen Ehemaligen sponsern heute selber Schüler. Dies sei für ihn ein schöner Beweis des Erfolges. Angesichts des zunehmenden Rechtspopulismus und der wachsenden Gewalt in Indonesien müsse es die allerhöchste Priorität sein, noch härter an den Zielen dieser Schule zu arbeiten. „Ich glaube, unsere gesteckten Ziele werden in Zukunft noch an Bedeutung gewinnen.“
Indonesien: Inseln, sprachen, Religionen
- Indonesien besteht aus etwa 18 000 Inseln. Niemand hat sie je genau erfasst. Erst in diesen Monaten läuft die erste staatlich organisierte Zählung.
- Mit rund 250 Millionen Einwohnern ist Indonesien die drittgrösste Demokratie der Welt.
- Mehr als 700 Sprachen und Dialekte werden gesprochen. Das entspricht etwa einem Zehntel aller Sprachen der Erde.
- In Indonesien lebt die weltweit größte muslimische Bevölkerung. 87,2 Prozent bekennen sich zum Islam.
- Rund zehn Prozent sind Christen, 1,7 Prozent Hindus. Buddhisten zählen zu den Minderheiten, die in sehr kleiner Zahl in Indonesien vertreten sind.
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