Wer von Assuan nach Abu Simbel will, nimmt eine kurze Nacht in Kauf. "Abfahrt ist um 3 Uhr 25" kündigt unser Reiseführer Muhammad an. Der Bus, erklärt er weiter auf einwandfreiem Deutsch, müsse pünktlich um vier Uhr an der Konvoistelle sein. "Reisegruppen, die später kommen, dürfen nicht fahren." Der Konvoi ist Pflicht? Muhammad schaut in erstaunte Gesichter. "Es gibt keine Sicherheitsprobleme in Oberägypten", schiebt er sofort hinterher, als müsse er uns beruhigen. Eine Kolonnenfahrt in der Wüste sei im Fall einer Panne eben einfach das Beste.
Kolosse im Sand
Muhammad weiß, dass es auch in unserer Gruppe Momente des Zögerns gab, die Reise an den Nil anzutreten. Dass in dem russischen Passagierflugzeug, das vor einem Jahr über dem Sinai abstürzte, ein Sprengsatz gefunden wurde, ist offenbar nicht nur uns im Gedächtnis geblieben; noch mehr als zuvor fehlen Ägypten nun die Touristen.
Im Reisebus nach Abu Simbel ist zumindest jeder zweite Platz besetzt. Von deutschen Urlaubern, allesamt Gäste auf Nilkreuzfahrtschiffen, die nun an Land einen Ausflug machen. Hinter dem Konvoi fährt Polizei, wie der Blick aus dem Fenster in einer Kurve zeigt - ein Zeichen von Sicherheit oder von Unsicherheit? Die Frage ist im nächsten Augenblick wieder vergessen, mit monotonen 100 Stundenkilometern geht es von jetzt an nur noch geradeaus, immerzu in Richtung Süden, bis kurz vor die Grenze des Sudan. Die Wüste wird von der Dunkelheit verschluckt, die meisten Passagiere haben die Augen geschlossen. Ein Mann frühstückt, ein anderer schnarcht.
Muhammad ist schon lange vor Sonnenaufgang putzmunter. "Guten Morgen", ruft er jedem einzelnen Fahrgast entgegen und beginnt sein Referat zur Baukunst von Ramses II. Dass er als Ägyptologe Reiseführer wurde, geht auf einen Ratschlag von Jan Assmann zurück, ebenfalls Ägyptologe und Emeritus der Heidelberger Universität. Er fand, das passe zu ihm. Und so doziert Muhammad in die Dämmerung hinein. Sein Vortrag dauert noch an, als wir längst vor den beiden Tempeln stehen, die der Pharao einst in den Fels schlagen ließ.
Der Tag hat gerade begonnen, die Hitze ist noch so eben erträglich. Vor der Fassade des Großen Tempels erscheint Ramses in Form von vier zwanzig Meter hohen Kolossen, die in einer Reihe nebeneinander sitzen. Sie blicken geradeaus auf den Nassersee, das Nilwasser glitzert im Sonnenlicht. Ein Kopf ist abgebrochen, er liegt vor den Kolossen im Sand. Was Ramses in den unterworfenen Nubiern auslösen wollte, indem er sich zwischen Kalkstein, Sand und Geröll ein gigantisches Denkmal erschuf, ist auch 3000 Jahre später noch unmissverständlich: Ehrfurcht angesichts seiner Macht.
Einsam auf der Bank
Vor dem Tempel sitzt ein Tourist aus Northeim auf einer Bank und betrachtet in aller Ruhe die Fassade. Ein Tischler im Ruhestand, der an diesem Tag 82 Jahre alt wird. Seit 15 Jahren fährt er jedes Jahr nach Ägypten. Auch in Abu Simbel war er schon, aber bei früheren Besuchen, sagt er, sei hier mehr losgewesen.
Die Bank vor dem Tempel muss der Mann diesmal mit niemandem teilen. Täglich kommen zur Zeit nur 250 Gäste, berichten die Polizisten, die in ihrer blütenweißen Uniform und mit großen Gewehren hinter dem kaputten Scanner am Eingang sitzen. Vor der Revolution seien es täglich an die 1500 Besucher gewesen, an Wochenenden sogar 2000.
Wen man auch fragt, überall erscheint die Revolution von 2011 als Zäsur. Ein Rekord wie im Jahr zuvor, als unter dem damaligen Staatschef Husni Mubarak noch knapp 15 Millionen Besucher ins Land strömten, scheint momentan in weite Ferne gerückt.
Was ein Fluch für diejenigen Einheimischen ist, die von den Touristen leben, ist für die Reisenden vor Ort natürlich ein Segen. Heute tritt einem in all den jahrtausendealten Tempeln zwischen Luxor und Assuan niemand auf die Füße, inmitten der Säulen von Karnak ist es in manchen Momenten so still, dass man nur den fernen Flügelschlag einer Taube hört. Wer über den Basar von Assuan streift, begegnet zwischen Gewürzen und Brot, rosa Zuckerwatte und Mülleimern mit Flokatibezug allenfalls einer Handvoll anderen Touristen. Wer zum Sonnenaufgang im Heißluftballon über das Tal der Könige schwebt, hat gemeinsam mit den Insassen von sechs, sieben anderen Ballons sogar den ganzen Himmel für sich. Und nichts anderes gilt für den Nil.
Als sich in Esna die Tore der Schleuse öffnen, ist es, als ginge der Theatervorhang nach der Pause wieder auf. Das Stück, das gezeigt wird, stammt aus einer fremden, uns unbekannten Welt. Und dort, wo die lästigen Wasserpumpen die Idylle nicht stören, erscheint es auch wie aus einer anderen Zeit. Gemächlich bewegt sich die Nile Excellence auf dem biblischen Fluss auf Luxor zu. Palmen und Bananen säumen rechterhand das Ufer, links sind erdfarbene Häuser zu sehen, dazwischen ein Minarett. Ein Esel schreit, eine Frau steht auf der Straße, ihr schwarzer Schleier flattert in der Brise. Drei Männer ziehen ein Ruderboot an Land, Kinder winken uns zu.
Dann überholt uns ein Schiff. "Die Jamila!", kommentieren Gäste auf dem Sonnendeck, ein Paar aus Brandenburg und ein Mann aus Düsseldorf erheben sich sogar von ihren Liegen. Es ist ein seltener Moment. Auf dem Nil sei es früher zugegangen wie auf einer Autobahn, hören wir von denen, die die klassische Strecke zwischen Luxor und Assuan nicht zum ersten Mal befahren. "Zur goldenen Zeit waren gleichzeitig 210 Kreuzfahrtschiffe auf diesem Abschnitt des Nils unterwegs", bestätigt Muhammad. Darin, dass es derzeit 35 sind, sieht er ein gutes Zeichen: "Es geht wieder bergauf."
Später, in Luxor, liegen die Ma-gic I, die Lady Mary und die Lady Carol neben uns vor Anker. Niemand steht dort hinter der Rezeption, in der Bar brennt kein Licht; nur ein Wachmann sitzt am Eingang und wartet auf bessere Zeiten. Im Luxor-Tempel sind wir allerdings dennoch nicht die einzigen Gäste. Diesmal begegnen wir einer Familie aus Kairo und zwei Männern aus Port Said. Einer der beiden trägt einen Bart, er kommt auf uns zu. Was er wohl will?, fragen wir uns verunsichert. Ein Foto mit uns, gibt er uns zaghaft zu verstehen, und schon posieren wir gemeinsam zwischen den Säulen.
Tanzen zu Helene Fischer
Aber noch sind wir nicht Luxor angekommen, noch trennen uns Stunden vom Stadtverkehr, von nervtötenden Droschkenbesitzern und von den nächsten antiken Bauten. Noch befahren wir den Nil. Kapitän Said sitzt in seiner knöchellangen Galabija auf der Brücke im Schatten und raucht. Sein Kollege sitzt im Führerhaus, im Fernsehen spricht Präsident Fattah al-Sisi. Kapitän Said betrachtet den Nil.
Es stimme, was die Leute sagen, meint er: dass die Kapitäne den Fluss besser kennen als ihre Kinder. Seit mehr als 30 Jahren steuert Said Schiffe über den Nil, mit kleinen Felukken fing es an, nun ist es dieses Kreuzfahrtschiff. Er habe Glück, sagt er, mit seiner Firma und mit dem Schiff, aber er erzählt auch von Kollegen, die nun auf dem Feld aushelfen, statt hinter dem Steuer zu stehen. "Ich hoffe", sagt er, "dass bald wieder mehr Touristen kommen, wenn sie sehen, dass Ägypten stabil ist."
Die Gäste auf dem Oberdeck jedenfalls wirken auch heute schon unbeschwert. Dort, wo sie unter sich sind, tanzen sie abends Discofox zu Helene Fischer und braten nun, am Tag, in der afrikanischen Sonne. Ein Mann aus Dortmund sucht etwas Abkühlung in dem winzigen Pool. "Achtung, Flutwelle!", ruft er noch, dann lässt er sich ins Wasser fallen.
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