Betrachtet man Frankfurt durch die Augen von Vogelschützer Ingolf Grabow, besteht die Stadt nicht aus Stadtteilen, sondern aus Revieren. Jeder höhere Turm markiert einen eigenen Machtanspruch. Es ist das Hoheitsgebiet der Falken.
Seit der Antike verklärt der Mensch den Greifvogel. Überlegen, erhaben und edel soll er sein. Rätselhaft, wild und widerspenstig. Schwer zu sagen, wo der Vogel aufhört und der Mythos beginnt. Nur so viel steht fest: Der Bann des Falken ist ungebrochen. Falknerkurse boomen. Die Jagd mit abgerichteten Falken auf Wild wird immer beliebter. Falknerverbände verzeichnen doppelt so viele Anmeldungen wie noch vor fünf Jahren. Familien pilgern in Scharen zu Greifvogelshows, arabische Scheichs lassen ihre Vögel in der Economy-Class einfliegen. Und jetzt erobert der Vogel auch noch die Großstädte. Mancher Vogelschützer nennt Frankfurt bereits die Wanderfalken-Hauptstadt Deutschlands.
An diesem Spätsommertag ist der Vogelexperte Ingolf Grabow auf dem Weg zum Revier Ginnheimer Turm. Einmal im Jahr schaut er nach den Nestern. Grabow, graue Haare, grüne Latzhose, arbeitet als Nestbetreuer beim Naturschutzbund Frankfurt. Er parkt seinen Lieferwagen vor dem Turm, steigt aus, kippt den Kopf in den Nacken und hält Ausschau. In einem Lüftungsschacht auf etwa 160 Meter Höhe nisten Falken. Jetzt, da die Brutzeit vorbei ist, will Grabow das Nest reinigen.
Der Pförtner grüßt Grabow mit einem Lächeln. „Zu den Falken?“, fragt er. Man kennt ihn in der Stadt, 15 Nistplätze betreut er mittlerweile. Der Aufzug ruckelt in die Höhe, nach einer Minute hält er an. Grabow tritt in den Gang. Neonleuchten surren, sonst ist der Turm tot. Ein paar Stockwerke weiter oben feierten einst Schlagerstars wie Rex Gildo im ehemaligen Turmrestaurant. Lange her. Heute lebt in dem Turm einsam das monogame Wanderfalkenpärchen.
Brutplatz auf Wolkenkratzern
Dass der Greifvogel seit einiger Zeit wieder die Metropolen dieser Welt besiedelt, grenzt an ein Wunder. Die Wanderfalken waren in den 1950er und 1960er Jahren fast vollständig verschwunden – nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Um das Tier zu retten, kürte ihn der Naturschutzbund Nabu im Jahr 1971 zum ersten Vogel des Jahres. Jetzt ist der Falke zurück. In New York, London und Frankfurt brüten die Vögel auf Wolkenkratzern – die Skyline als urbane Felsenlandschaft ist bestens geeignet, um anzugreifen. Erspähen Wanderfalken Beutetiere, stoßen sie im Sturzflug herab und schlagen im Luftraum über der Stadt zu. Unten in den Einkaufsmeilen der Häuserschluchten bekommt davon niemand etwas mit. Auf Straßenniveau lässt sich der Wanderfalke so gut wie nie herab – irgendeine Taube verirrt sich immer nach oben. Der Falke muss nur warten.
Ingolf Grabow ist jetzt fast am Ziel: Nur noch eine zwei Meter hohe Steigleiter trennen ihn von der Luke zum Nest. Trotz seiner 77 Jahre geht sein Atem leicht. Er verschiebt die Klappe vor dem Guckloch und erstarrt. Ein Wanderfalkenmännchen schaut ihn direkt an.
Seine Augäpfel sind so groß, dass sie in seinem Schädel gegeneinanderdrücken. Während die Netzhaut des Menschen 70 000 lichtempfindliche Zapfen aufweist, besitzt der Falke eine Million dieser Sehzellen. Zudem münden die Zapfen in Öltröpfchen, die wie kleine Lupe wirken.
Falken sehen aber nicht nur schärfer und kontrastreicher, sondern auch mehr Bilder pro Sekunde. Ein Fernsehfilm wirkt auf den Falken wohl wie ein öder Dia-Vortrag. Gerade mal 20 Ereignisse kann ein Mensch pro Sekunde verarbeiten, ein Falke schafft 70 in derselben Zeit. Ein enormer Vorteil, wenn er auf die schnellen Richtungswechsel eines Beutetiers reagieren will. Turmfalken sehen sogar im ultravioletten Bereich. So können sie Spuren von Nagern erkennen, deren Harn UV-Licht reflektiert. Kein Wunder also, dass Falkner Hauben nutzen, um die Vögel vor zu vielen Eindrücken zu schützen.
Der Falke, der Grabow gegenübersitzt, trägt keine Haube. Ruhig wirkt er auch nicht. Er stößt Drohrufe aus. Eigentlich will Grabow das Nest säubern, doch das Männchen will nicht weichen. Grabow rüttelt an der Tür, bis sie aufspringt.
Ein durchdringender Schrei, drei kräftige Flügelschläge – und der Falke ist verschwunden. Die aufgewirbelten Federn seiner ausgeflogenen Jungvögel segeln auf den Nestboden.
Schneller Jäger
Wanderfalken sind die schnellsten Tiere der Welt. Stoßen sie auf ein Beutetier herab, erreichen sie Geschwindigkeiten von bis zu 360 Stundenkilometern. Ihre Flügel sind lang, spitz und leicht gewölbt, um den Luftwiderstand zu verringern. Leicht und stabil ist sein Skelett. Der Wanderfalke ernährt sich fast ausschließlich von Vögeln. Bei der Jagd auf Säugetiere würde er am Boden zerschellen. Grabow fischt einen blauen Ring aus dem Vogelmist. Es ist ein Renntaubenring. Ein gefundenes Fressen.
Wenn es hingegen um die unbeliebte Stadttaube geht, kommt der Falke dem Menschen gerade recht. Der Falkner Lothar Ciesielski wird immer häufiger gerufen. Das Einsatzgebiet an diesem Tag ist das Rhein-Energie-Stadion in Köln. Ciesielski versucht, Anreize für seinen Wanderfalken Apollo zu schaffen. Er soll künftig Krähen aus dem Fußballstadion vertreiben und dabei von Wüstenbussard Gandalf lernen, wie man die klugen Vögel verjagt.
Hinter den Kulissen
Ciesielskis Biografie ist vielleicht enger an die Falknerei gebunden als die eines jeden anderen. Vater, Tochter, Ehefrau, Schwiegersohn in spe – alle haben sie den Falknerschein gemacht. Es ist ein Familienunternehmen, das sie in Köln führen. „Sie haben mir den Falken an den Laufstall gebunden“, sagt er und zuckt mit den Schultern.
Eine Tour durch Köln zeigt, dass ihm seine Greifvögel Zutritt zu allen möglichen Orten verschaffen. Nach ein paar Autominuten steht Ciesielski vor Kölns schickster Adresse, den Kranhäusern am Rheingau-Hafen. Er lässt die Autoscheibe runter und sagt: „Hallo, hier ist der Falkner.“ „Ah, der Falkner“, antwortet eine weibliche Stimme aus der Sprechanlage, die Schranke geht hoch. Ciesielskis Ziel liegt im zwölften Stock. Verglaste Balkone, bewässertes Atrium, Blick über den Rhein. Sechs Stockwerke drüber soll Lukas Podolski wohnen. Hier will man keine Taubenkacke, ist klar.
Doch heute muss Ciesielski seine Greife erst gar nicht aus den Transportboxen holen. Keine Taube weit und breit. Etwa 40 Euro nimmt Ciesielski pro Stunde. Die meisten Kunden arbeiten über einen längeren Zeitraum mit ihm. Nach einer Intensivphase, in der er viermal die Woche die Greife fliegen lässt, folgen gelegentliche Stippvisiten. Viele Falkner zweifeln an der Nachhaltigkeit solcher Vergrämungsaktionen. Ciesielski zuckt mit den Schultern. Die Nachfrage sei da, die Leute seien zufrieden, sagt er. Macht halt auch was her. So ein Greif in der Wohnanlage.
Erst kürzlich flogen seine Vögel hinter den Kulissen des Promi-Big-Brother-Containers. Die MMC Filmstudios hatten Ciesielski gebucht. Unten saßen die Stars im Pool. Oben schissen die Tauben den Technikern auf die Mischpulte. Ciesielskis Greife waren vier Tage im Einsatz. Mittlerweile ist der Spuk vorbei. Überall liegen leere Plastikflaschen und Konfetti. Die Techniker rollen meterlange Kabelwüste zusammen. Ciesielski bahnt sich seinen Weg – niemand schaut hoch. Wenn er die Greifvögel auf der linken Faust trägt, ist das anders. Immer wieder kommen Menschen auf ihn zu und bewundern die charismatischen Tiere.
Dem Bann des Falken entkommt niemand. Die britische Autorin Helen MacDonald hat nach dem Welterfolg von H wie Habicht nun auch dem Falken ein ganzes Buch gewidmet. Darin zitiert sie einen Falkner, der die Begeisterung für die Tiere auf den Punkt bringt: „Im Grunde zähmt man den Falken nicht, sondern wird selbst ein bisschen wilder, ein bisschen wie er.“ Vielleicht trägt das zur Erklärung dafür bei, warum Menschen aller Epochen sich von Falken in den Bann ziehen lassen.
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