Gegen die Hornlosigkeit

In Supermärkten findet sich manchmal Milch von behornten Kühen, Tiere mit Hörnern gibt es jedoch immer weniger. Macht das was? Eine Prüfung.

Von 
Peter Jaeggi
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Sind Kühe wie diese in der Schweizer Gemeinde Muotathal künftig ein seltener Anblick? Forscher warnen: Bei einigen Rinderrassen könnte es bald keine horntragenden Kühe mehr geben. © Jaeggi

Kinder lernen am Anfang der Schulzeit das ABC. Dass es sozusagen mit einem Hornochsen beginnt, dürfte kaum jemandem bekannt sein. Die Wissenschaft geht heute davon aus, dass die Urform des Buchstabens A in den ägyptischen Hieroglyphen zu finden ist. Dort steckt das Kuhhorn in einem etwa 4000 Jahre alten Bildzeichen, das einen Ochsenkopf mit Hörnern zeigt und für A wie „alpu“ steht. Im semitischen Alphabet mutierte „alpu“ zu „alepp“, dem Zeichen fürs Rind. Später wurde dieses Hornzeichen umgedreht und ist im lateinischen Alphabet zum Buchstaben A geworden. Das bestätigt der Sprachwissenschaftler Fernando Zuniga von der Universität Bern.

Mehr als eine Waffe

Kuhhörner sind schön – so die Sicht des Menschen. Aus der Sicht von Rind, Kuh und Stier jedoch ist das Horn weit mehr. So kratzt sich die Kuh damit an Stellen, an die sie sonst nicht hinkommt. Sie kann die Hornspitze auch einer Freundin zur Verfügung stellen. Der Biobauer und Buchautor Martin Ott hat beobachtet, wie befreundete Kühe einander die Hornspitze hinhalten zum Entfernen eingetrockneter Sekrete aus dem Augenwinkel.

„Das würde sie unterlassen, wenn sie nicht wüsste, dass die Freundin sehr bewusst mit ihrem spitzen Horn umgehen kann“, sagt der prominente Biobauer und Kuhexperte und widerspricht damit der landläufigen Meinung, das Kuhhorn sei bloß eine Waffe.

Kühe kommunizieren mit den Hörnern auch miteinander. Vom leichten Anstupsen über den unsanften Hornstoß bis hin zu einer Kopfbewegung, ohne die Nachbarin zu berühren. Eine Kopfbewegung mit dem Horn genügt, um die Rangniedrigere zu verscheuchen. Beim Ermitteln der Rangordnung spielt das Horn eine zentrale Rolle. Ausgemacht wird sie mit gegenseitigem Kräftemessen. Dabei werden die Stirnbeine aneinandergelegt, die Hörner dienen als Halteorgane. Wer stärker schiebt, gewinnt.

Hörner verraten auch, wie oft eine Kuh gekalbt hat. Ähnlich einem Jahrring des Baumes hinterlässt jede Geburt eine Art Ring am Horn. Und das Horn verhilft der Kuh sozusagen zu einem kühlen Kopf. Sie leitet über die Hörner überschüssige Wärme ab und schützt so vor allem das Gehirn. Je heißer das Klima, umso größer die Hörner. Bei uns sei es einer Kuh bei Temperaturen um null Grad herum bis etwa 25 Grad am wohlsten, sagt der holländische Kuhwissenschaftler Ton Baars, der zur „Klima-Anlage“ der Kuh geforscht hat. „Wird es zu warm, kann die Kuh in einen Hitzestress kommen; ist es zu kalt, ist Kältestress möglich. Weil die Hörner durchblutet sind, haben sie eine Regulationsfunktion; sie kühlen oder wärmen.“

Beinahe alle von Deutschlands etwa 4,2 Millionen Milchkühen haben keine Hörner mehr. Das Hauptargument dafür sind Unfälle, die zwischen Tieren sowie zwischen Tier und Mensch tatsächlich passieren können. Allerdings gibt es keine wissenschaftlichen Untersuchungen, die zeigen, dass horntragendes Rindvieh gefährlicher sein könnte als hornloses. Hingegen gibt es eine ganze Reihe von Studien, die beweisen: Je sorgsamer, je besser die Mensch-Tier-Beziehung, je angepasster Haltung und Management, desto weniger Auseinandersetzungen und Schäden gibt es.

Unfallgefahr?

Susanne Waiblinger, Professorin am Institut für Tierhaltung und Tierschutz an der veterinärmedizinischen Universität in Wien, stützt sich auf eigene Forschungen, wenn sie fordert: „Von Anfang an mit dem Kalb einen positiven Umgang pflegen, streicheln, freundlich sprechen mit den Tieren, nicht anschreien und möglichst nicht stoßen.“ So könne eine gute Mensch-Tier-Beziehung entstehen, die Herde werde ruhiger und sei leichter zu managen. Zudem empfiehlt sie, nur mit gutmütigen Tieren zu züchten.

Die neueste Studie zu Hornschäden im Stall wird demnächst abgeschlossen. Unter dem Titel „Hörner im Laufstall“ untersuchte ein Team der Universität Kassel drei Jahre lang deutschlandweit 39 Milchkuh-Betriebe auf hornbedingte Tierschäden. Die Agrarwissenschaftlerin Julia Johns hat die Studie wissenschaftlich begleitet und sagt: „Wir konnten bestätigen, dass in behornten Herden die Auseinandersetzungen mit Körperkontakt tendenziell eher abnehmen und eher in hornlosen Herden auftreten. Bei diesen können Blutergüsse unter der Haut auftreten, wenn sich die Tiere mit Kopfstößen verletzen.“ Man habe große Unterschiede zwischen den Betrieben gesehen, sagt Johns. „So gibt es Bauernhöfe, in denen sämtliche Kühe Hörner tragen. Trotzdem treten keine oder sogar weniger Auseinandersetzungen und hornbedingte Schäden auf als in Ställen mit teilweise enthorntem Tierbestand.“ Mit genügend Platz beim Fressen oder auch genügend große Warteräume vor dem Melkstand ließen sich Zusammenstöße vermeiden.

Für Kultur und Wissenschaft

Immer mehr Milchkühe werden heute enthornt oder genetisch hornlos gezüchtet. „Bei einigen Rinderrassen könnte es schon bald keine horntragenden Kühe mehr geben“, glaubt Anet Spengle, Forscherin am FIB, dem weltweit führenden Institut für biologischen Landbau in der Schweiz. Sie setzt sich auch aus wissenschaftlichen Gründen gegen die Hornlosigkeit ein, „denn wir wissen ja nicht einmal genau, für was alles sie stehen“.

Der Agrar-Ingenieur Ulrich Mück geht noch weiter: „Kühe mit Hörnern haben auch einen großen kulturellen Wert. Zudem spielen sie für die genetische Vielfalt der Rinder eine wichtige Rolle. Man züchtet jetzt an einem Wesensmerkmal aller Rinder herum, die zoologisch gesehen Hornträger sind. Mögliche Effekte für die genetische Zukunft sind vollkommen unbekannt.“ Der niederländische Kuhforscher Ton Baars wundert sich deswegen auch, „dass man selbst in der ökologischen Landwirtschaft Kühe genetisch hornlos züchtet“.

Das Horn im Keim ersticken: Das geschieht allein in Deutschland jährlich etwa anderthalb Millionen Mal beim Enthornen eines Kalbes. Ein etwa 600 Grad heißer Brennstab, ein sogenannter Thermokauter, wird einige Sekunden auf die beiden Hornknospen gedrückt, um das Hornwachstum zu verhindern. Der Eingriff ist nur unter Lokalanästhesie, also nach einer Schmerzausschaltung gestattet. In Deutschland hingegen darf das Kalb bis zur sechsten Lebenswoche ohne jede Betäubung enthornt werden. Vorgeschrieben sind nur Schmerz- und Beruhigungsmittel.

Claudia Spadavecchia, Tierärztin und Professorin an der Universität Bern, wollte wissen, wie lange Kälber nach dem Eingriff noch leiden. Sie und ihr Team haben dazu eine aufsehenerregende Studie gemacht, deren erster Teil im März publiziert wurde. „Bei einem Drittel der enthornten Kälber sahen wir nach drei Wochen noch immer eine Überempfindlichkeit“, berichtet Spadavecchia. Dabei spielte es keine Rolle, ob die Tiere in der ersten oder vierten Woche enthornt wurden. Bisher glaubte man, dass die Schmerzen rund um die ausgebrannten Hornknospen lediglich zwei, drei Tage anhalten würden. Doch nun weisen ihre Forschungen darauf hin, dass bei einem beträchtlichen Teil der Kälber selbst drei Monate nach der Enthornung noch Überempfindlichkeiten feststellbar sind – häufig wohl sogar noch länger.

Hans-Ulrich Huber, Geschäftsführer vom Schweizer Tierschutz STS, betont, dass ein Enthornungsverbot in Erwägung gezogen werden solle, wenn sich herausstellt, dass der Schmerz lebenslänglich anhält. Bisher erlauben sowohl das schweizer als auch das deutsche Tierschutzrecht das Enthornen.

Das Kuhhorn ist innen hohl und dieser Hohlraum reicht ins Schädelinnere, in die Stirnhöhle. „Wenn die Kuh atmet, gelangt die Atemluft in diese Hohlräume. Die Kuh ist ein Wiederkäuer und sie atmet Methangas und Kohlendioxid, die während der Verdauung entstehen, bis in die Hörner hinein“, sagt die deutsche Agrarwissenschaftlerin Jenifer Wohlers und folgert: „Die Hörner könnten bei der Verdauung eine Rolle spielen.“ Doch der wissenschaftliche Beweis dafür steht noch aus.

Manchen ein Anliegen

In der Schweiz fordern Bauern derzeit mit einer Initiative, dass Halter von horntragenden Kühen, Stieren und Ziegen finanziell unterstützt werden, und auch in Deutschland sind behornte Kühe manchen ein Anliegen. In Supermärkten finden sich Produkte von Kühen mit Hörnern. Das „Demeter“-Label der biodynamischen Landwirtschaft garantiert Milchprodukte von behornten Kühen. Auch einige andere Hersteller und Käsereien in Deutschland verkaufen „Hornmilch“. Wer Kühe mit Hörnern und ihre Halter unterstützen will, kann das also tun.

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