Frank Ramsthalers Job ist oft schwierig. Zum Beispiel dann, wenn der Rechtsmediziner nicht weiß, wer die verstorbene Person auf dem Sektionstisch ist. So wie an jenem Tag, an dem er in einer weißgekachelten Halle im Homburger Institut für Rechtsmedizin der Universität des Saarlandes steht.
Tags zuvor wurde ein Mann tot in einem Waldstück aufgefunden, mit tiefen Schnitten links und rechts am Hals. Grelles Neonlicht leuchtet die Wunden und Leichenflecken aus. Es ist jetzt Ramsthalers Job, herauszufinden, woran der Mann gestorben ist. Der Rechtsmediziner trägt Kittel, Vollbart und eine Nickelbrille. Über deren Rand nickt er dem Präparator zu. Der setzt daraufhin zum sogenannten T-Schnitt an. Von Schulter zu Schulter, vom Hals zum Schambein schneidet er den Leichnam auf.
Rechtsmediziner haben immer drei Aufgaben: Sie müssen aufklären, woran ein Mensch gestorben ist, die Todesart bestimmen und herausfinden, wer dieser Mensch ist. Das heißt: Sie müssen den Toten eindeutig identifizieren. In den meisten Fällen ist das kein Problem, zum Beispiel, wenn die tote Person im Krankenhaus oder zu Hause verstorben ist. Schwierig wird es, wenn die Leiche im Wald gefunden wird oder die Verwesung weit vorangeschritten ist. Wenn sogar die üblichen Methoden wie DNA-Analyse, Fingerabdrücke und Zahnstatus versagen, hat Ramsthaler ein Problem.
Dabei liegt die Lösung mittlerweile immer häufiger auf der Haut. Ramsthaler versucht dann über Tätowierungen die Identität des Toten zu klären. Fast jeder fünfte Erwachsene in Deutschland ist tätowiert – Tendenz steigend. Immer extravaganter und individueller werden die Motive, und immer mehr Menschen posten Bilder ihrer Tattoos in den sozialen Medien. Je ausgefallener und komplexer die Tätowierung, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass sie jemand wiedererkennt. Das ist Ramsthalers Chance: In Absprache mit der zuständigen Staatsanwaltschaft schießt der Rechtsmediziner dann ein Foto des Tattoo-Motivs, gibt es an die Medien weiter und bindet so die Öffentlichkeit ein. Ein seltenes, aber sehr effizientes Verfahren. Von rund 350 Toten, die jährlich auf seinem Sektionstisch landen, werden zwar nur drei bis vier Fälle ausschließlich aufgrund der Tätowierung identifiziert, aber künftig könnten es mehr werden.
Überführung des Mafia-Bosses
Von der Tattooanalyse profitieren nicht nur Rechtsmediziner, sondern auch Ermittler. Das zeigte erst kürzlich ein spektakulärer Fall. 15 Jahre lang fahndeten Ermittler nach dem japanischen Mafiaboss Shigeharu Shirai. Erfolglos. Erst das Foto seiner Tätowierung brachte die Wende. Das ranghohe Yakuza-Mitglied war gerade in ein Brettspiel in der Stadt Lopburi in Thailand vertieft, als ihm sich ein Tattoo-Fan näherte und ihn bat, sein imposantes Ganzkörper-Tattoo fotografieren zu dürfen. Shigeharu Shirai erlaubte es. Eine verhängnisvolle Entscheidung, denn der enthusiastische Fan postete das Foto auf Facebook. Es wurde tausendfach geteilt. Wenige Tage später klickten in Thailand die Handschellen.
Erst gestern hatte auch Ramsthaler wieder so einen Fall, in dem Tattoos dazu beitrugen, die Trägerin zu identifizieren. Eine junge Frau, über deren Hüftknochen sich eine Kletterpflanze rankte, zudem zahlreiche Piercings an Nase und Brust. Ramsthaler klickt sich ungerührt durch die Bilder der Toten auf seinem Rechner, um zu verdeutlichen, welch individuelles Gesamtbild sich dadurch ergibt.
Rechtsmedizinern eilt der Ruf voraus, zu den eher schrägen Vögeln zu gehören. Filme und Serien wie Tatort befördern das Image des weltfremden Misanthropen mit abgründigen Humor. Die Logik: Wer täglich Tote untersucht und seziert, muss einen Hang zum Morbiden haben. Ein Klischee, mit dem Frank Ramsthaler nichts anfangen kann. Er arbeitet als Rechtsmediziner, weil er den Ermittlern helfen will, Verbrechen aufzuklären. Nicht mehr und nicht weniger.
Ähnlich geht es der New Yorker Forensikerin Michelle Miranda. Sie erzählt, wie der Fall eines unvorsichtigen Tattoo-Trägers sie zu einem Fachbuch über Tätowierungen inspirierte. Die Amerikanerin unterrichtet Strafverfolgungstechniken am Farmingdale State College in New York und arbeitete als Kriminalistin bei der New Yorker Polizei.
Tatort abgebildet
Per Skype beschreibt sie, wie es Polizisten in Los Angeles gelang, einen Mann zu überführen, der sich den Tatort eines von ihm begangenen Mordes auf die Brust tätowiert hatte. Als die Beamten ihn wegen eines anderen Delikts verhafteten, erkannte ein Ermittler den abgebildeten Spirituosen-Laden auf der Tätowierung, vor dem eine Leiche lag. Die Tätowierung erinnerte den Ermittler an einen echten Tatort, der exakt gleich aussah. Er lag richtig. Der Mann wurde überführt.
Miranda schüttelt den Kopf, als sie sich an die Story erinnert. Die Wissenschaftlerin hat sich mit der Zusammensetzung und Geschichte von Tattoo-Farben beschäftigt. „Ort, Design, Farbe – das Tolle an Tattoos ist, dass sie auf einen Blick eine Fülle von Informationen liefern können“, sagt sie. Auch ihre chemische Zusammensetzung macht Tattoos zum wertvollen Hinweisgeber.
Die Farben werden mit elektrisch betriebenen Nadeln unter die Hautoberfläche gebracht. Pro Quadratzentimeter Haut verwenden Tätowierer etwa 2,5 Milligramm Farbe. Dabei bleibt ein großer Teil der Farbe in der zweiten Hautschicht haften, der Rest wird über das Lymphsystem abtransportiert. Meistens kommt es dabei zu Pigmentablagerungen in den Lymphknoten. Miranda sieht darin eine Chance: Irgendwann könne man eine bestimmte Pigmentmischung sicher auf den Hersteller zurückverfolgen oder einen bestimmten Stil mit einem Tattoo-Studio verbinden.
Zudem sind Tattoo-Motive Moden unterworfen. Vom berüchtigten Arschgeweih Mitte der Neunziger, über asiatische Schriftzeichen, kleinen filigranen Tattoos wie Sterne und Monde Anfang der Nullerjahre bis hin zu großflächigen Tattoos von heute. „Tattoos dienen als Puzzlestücke, die manchmal sogar Rückschlüsse auf das Alter des Trägers zulassen“, sagt Miranda.
Ramsthaler scheint das nicht zu beeindrucken, er ist selbst mehrfach tätowiert. Auf seinem Unterarm prangt die Skizze einer Lichtmaschine da Vincis. Ein eigenwilliges Motiv. Sollte Ramsthaler ein Verbrechen begehen oder Opfer eines solchen werden, wäre er leicht zu identifizieren. Aber nun macht er sich ans Werk und lässt Wasser in den Herzbeutel des Toten vor ihm fließen. Er ist immer noch auf der Suche nach der Todesursache.
Als Luftblasen emporblubbern, steht seine Diagnose fest. Luftembolie mit anschließendem Rechts-Herzversagen. Ein schneller Tod. Der Abschiedsbrief, die Wundschnitte, die Umstände – alles sieht nach Suizid aus. Auch die Identität des Toten steht fest. Nach zwei Stunden ist die Obduktion beendet. Nicht immer geht es so schnell. Dann müssen Rechtsmediziner kreativ werden.
Wie im Fall des Eisanglers aus Hessen vor sieben Jahren. Zusammen mit Rechtsmedizinern aus Gießen und Frankfurt veröffentlichte Ramsthaler den Fallbericht im Archiv für Kriminologie. Als ein Eisangler im Februar 2011 in einen nordhessischen See einbrach, blieb die Suche durch Polizeitaucher zunächst erfolglos. Wochen später fanden Spaziergänger einen im Wasser treibenden Toten, dessen Kleidung mit jener des vermissten Anglers übereinstimmte. Als Beweis reichte das nicht aus. Und eine Identifizierung durch Angehörige kam wegen der fortgeschrittenen Fäulnis der Leiche nicht in Frage. Also mussten sich die Rechtsmediziner etwas anderes einfallen lassen.
Bei der Obduktion fiel ihnen eine Tätowierung am linken Unterarm des Toten auf. Glücklicherweise lag der Polizei ein etwa zwei Jahre altes Familienfoto des Vermissten vor, der eine Tätowierung an der derselben Stelle trug. Ramsthaler und seine Kollegen probierten sich darauf an einer nicht ganz alltäglichen Methode. Sie versuchten, die Tätowierung des Toten aus demselben Blickwinkel zu fotografieren wie auf dem Familienbild. Anschließend schoben sie das Foto mit einem Bildbearbeitungsprogramm über das Familienbild, bis sich beide sich deckten. Es bestand kein Zweifel. Der Tote war der vermisste Eisangler.
Selbst das Katalogmotiv hilft
Selbst Allerwelts-Tattoos aus dem Vorlagenkatalog haben also einen Wiedererkennungswert, wenn sie an einer ungewöhnlichen Stelle angebracht sind. Und gerade bei mehreren Tattoos bilden die Zeichnungen ein individuelles Gesamtmuster. Motive verraten etwas über den Träger. Denn auch wenn heute nicht jeder, der ein Anker-Motiv trägt, Seemann ist, lassen Fußballverein-Embleme von Ultra-Fans, Jahreszahlen und Namen Rückschlüsse auf das soziale Umfeld zu. Um pauschale Motivinterpretationen zu verhindern, ermutigen Rechtsmediziner wie Ramsthaler jedoch zu einer intensiveren Auseinandersetzung mit den Körpermodifikationen.
Für heute hat Ramsthaler seine Arbeit getan. Der Sektionsgehilfe spritzt den Metalltisch mit einem Wasserstrahl ab. Der Hauptkommissar nimmt den vorläufigen Obduktionsbericht entgegen. Als die beteiligten Rechtsmediziner am Ende ihres Arbeitstages die blauen Kittel gegen ihre Straßenkleidung tauschen, blitzt die Tätowierung eines Kollegen von Ramsthaler auf. Das Motiv: ein Mann, der mit dem Zeigefinger droht. Inspiration war ein Feld aus dem Monopoly-Spiel, und zwar „Zurück ins Gefängnis“. Dorthin schicken sie alle, die nicht nach den Regeln spielen.
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