Reportage

Das Alcatraz Deutschlands

Brutstätten des Terrorismus? Der Knast gilt als ein Ort, an dem Radikalisierung begünstigt wird. Sogenannte Strukturbeobachter sollen dies frühzeitig erkennen – und verhindern. So auch im Hochsicherheitsgefängnis Frankfurt 1.

Von 
Nadine Zeller
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Stefan Schürmann in seinem Büro: Um zu erkennen, ob ein Häftling extremistische Gedanken hegt, trägt der Strukturbeobachter alles zusammen, das in irgendeiner Weise auffällig ist. © Zeller

Er soll das Unsichtbare erkennen. Hinter einem Fenster steht Stefan Schürmann breitbeinig im Halbschatten, die Daumen in den Hosenbund eingehakt. 1,79 Meter groß, 43 Jahre alt, kurze Haare, blaue Hose, weißes Hemd. Er beobachtet den Innenhof des Hochsicherheitsgefängnisses Frankfurt 1. Blickt auf einen verwaisten Basketballplatz herab, die Sonne knallt auf den roten Tartan. Auf der rechten Seite ragt eine 17 Meter hohe Mauer in den Himmel. Die restlichen drei Seiten des Areals sind von Gefängniswänden eingegrenzt.

Nicht erst seit dem Fall Anis Amri gelten Gefängnisse als Orte, in denen spätere Attentäter unter dem Einfluss von Mithäftlingen zu Überzeugten werden. Deswegen setzen Länder wie Hessen zunehmend auf Spezialisten wie Stefan Schürmann. Er ist Strukturbeobachter und soll erkennen, ob sich ein Insasse radikalisiert. Rechte, Linke, Islamisten – Schürmann hat alle im Blick. Aktuell stuft das Bundeskriminalamt 760 Personen deutschlandweit als Gefährder ein. Hessen ist eine der Hochburgen in Deutschland.

Lehren aus Camp Bucca

Das Land nimmt eine Vorreiterrolle ein: Fast in jedem hessischen Gefängnis arbeiten Strukturbeobachter in engem Austausch mit dem Justizministerium und den Sicherheitsbehörden. Gleichzeitig ist Frankfurt 1 eines der modernsten Gefängnisse des Landes. In der Untersuchungshaftanstalt warten Mörder, Salafisten, Rocker, Rechtsextremisten, aber auch Kleinkriminelle auf ihren Prozess. Wer angeklagt wird, eine schwere staatsgefährdende Straftat vorbereitet zu haben, steht von Anfang an unter besonderer Beobachtung.

Bei Freigang halten sich bis zu 80 Häftlinge im Gefängnishof auf, werfen ein paar Körbe, rauchen, reden. Schürmann sieht genau, wer Menschen um sich schart und wer für sich bleibt, wer predigt und wer zuhört. Selten hat er direkten Kontakt zu Gefangenen. Oft berichten ihm Kollegen von Auffälligkeiten. Schürmann trägt diese dann zusammen. So entsteht langsam ein Bild.

Es gehört zu den baulichen Besonderheiten der Anstalt, dass man Tätergruppen und Individuen gezielt trennen kann. Man kann in Frankfurt 1 einsitzen und sich nie begegnen. Es ist auch eine Lehre aus der Erfahrung mit Gefangenenlagern wie dem Camp Bucca im Irak. Dort hielten amerikanische Soldaten Islamisten und Anhänger Saddam Husseins monatelang in ein- und demselben Gefängnis fest. Sie gründeten den Islamischen Staat. Die Abkömmlinge dieser toxischen Zusammenkunft sitzen teilweise heute in Frankfurt 1.

Es mangelt an Studien

Während es die Aufgabe von Schürmann ist, Gefährder zu erkennen, ist es die Aufgabe von Deradikalisierungsprogrammen, Extremisten zu entschärfen. Wie genau das funktionieren soll, untersucht Extremismusexperte Daniel Köhler. Der Leiter und Gründer des German Institute on Radicalization and De-Radicalization Studies (Girds) will herausfinden, wie solche Programme aufgebaut sein müssen, damit sie wirken. Sein Buch „Understanding Deradicalization“ gilt als Pionierarbeit, weil Köhler darin eine aktuelle Übersicht an Deradikalisierungstheorien aufführt. Gleichzeitig kritisiert er darin, dass empirische Studien zur Wirksamkeit von Ausstiegshilfen fehlen. Bei den wenigen Veröffentlichungen, die es gibt, handelt es sich meist entweder um Selbstberichte der Programme oder um bloße Auftragsstudien – ohne evaluativen Wert. Köhlers Kritik daran brachte ihm bereits eine gerichtliche Unterdrückungsklage wegen „Geschäftsschädigung“ ein. Doch sein Engagement ist ungebrochen. Er ist in Brandenburg aufgewachsen. Einige Schulkameraden waren Neo-Nazis. Köhler ging Umwege, um ihnen nicht in die Hände zu fallen. Jetzt will er sicherstellen, dass gefährliche Personen richtig betreut werden. Den Einsatz von Strukturbeobachtern hält er für überfällig.

Schürmann macht sich auf den Weg zur Kammer. Hier kommen die Häftlinge an, wenn sie einchecken. Im Gang steht ein Zigarettenautomat. Es riecht nach Rauch. Ein Häftling steht ans Fenster gelehnt, die Kippe im Mundwinkel. In den Zellen ist Rauchen erlaubt, doch bevor die Insassen diese zugewiesen bekommen, müssen sie Kleidung und Wertgegenstände abgeben. Feuerzeuge mit Hakenkreuzen, Springerstiefel oder Korane des berüchtigten Lies-Verlags liefern erste Hinweise zur Gesinnung des Häftlings. Da die U-Haft die meisten Menschen unvorbereitet trifft, fehlt ihnen die Zeit, sich von auffälligen Gegenständen zu befreien.

Kommt er sich manchmal wie ein Spitzel vor? Er zuckt mit den Schultern. „Kann schon sein, dass die Insassen so über mich denken. Ich selbst sehe mich mehr als jemanden, der Profile von Menschen erstellt, um die Gesellschaft zu schützen.“

So sieht es auch Anstaltsleiter Franz-Josef Pfeifer. Er tritt hinter seinem Schreibtisch hervor, über diesem hängt ein Holzkreuz. Händeschütteln und Nicken fallen wohldosiert aus. Nach Angaben von Pfeifer bewegt sich die Zahl der einsitzenden Gefährder im niedrigen zweistelligen Bereich. Wer genau schon in Frankfurt I war, verrät er nicht. Fakt ist: In der Stadt finden häufig Gefährder-Prozesse statt, weil die Richter sich im Laufe der Jahre eine gewisse Expertise erarbeitet haben.

Entsprechend hoch ist die Sicherheitsstufe. Über dem Innenhof spannt ein Netz. Es soll verhindern, dass Hubschrauber landen, die den Häftlingen zur Flucht verhelfen. Die Insassen gelangen durch unterirdische Gänge von A nach B. So kommen sie nicht in die Nähe der Außenmauern. Diese umgeben den ohnehin abgeschotteten Innenhof wie einen zweiten Ring. Niemand kommt hier weg. Frankfurt 1 ist das Alcatraz Deutschlands. Und Stefan Schürmann gehört zum Sicherheitskonzept.

Ein kodifizierter Nazigruß

Dass man Gesinnungen nicht mit dem bloßen Auge erkennt, ist dem Strukturbeobachter bewusst. Deswegen hält er nach Zeichen Ausschau: Verhaltensänderungen, neuer Kleidungsstil, auffällige Zeichnungen – nichts entgeht ihm. In seinem Büro zieht Schürmann ein Foto aus einem Ordner, darauf ist die Faust eines Mannes abgebildet. Auf seinen Fingerknöcheln stehen Zahlen. „Ein kodifizierter Nazigruß“, sagt er und lässt das Foto in die Mappe gleiten. An der Magnetwand hängen Zeichnungen, konfisziert aus Gefängniszellen. Auf eine hat ein Insasse den Siegelring des Propheten gemalt, die arabischen Schriftzeichen darüber vervollständigen das Ganze zur IS-Flagge.

Von seinem Büro aus telefoniert Schürmann mit den Sicherheitsbehörden, mit Experten einer eigens eingerichteten Stabstelle des Landes Hessen, genannt Netzwerk Deradikalisierung im Strafvollzug – NeDiS. Eine Art Extremismus-Think-Tank. Islamwissenschaftler, Theologen und Extremismusforscher arbeiten zusammen, Schürmann tauscht sich regelmäßig mit ihnen aus und bittet um Einordnung: Was bedeuten diese arabischen Schriftzeichen? Wofür steht diese Zahlenkombination? Im Extremfall holt er sich einen Richterbeschluss, der Einzelhaft anordnet. Wenn er glaubt, einen Gefährder vor sich zu haben, teilt er das dem Verfassungsschutz mit.

Umgekehrt hört er aus Wiesbaden kaum etwas. Datenschutz oder laufende Ermittlungen, heißt es dann. Wie radikal ein Häftling ist, erfahren Gefängnismitarbeiter oft erst im Alltag. Hessen versucht deshalb seit 2016 , den Informationsfluss unter den Behörden zu vereinfachen. Sobald klar ist, dass jemand eine Gefahr darstellt, sollte gemeinsam gehandelt werden, findet Extremismusexperte Daniel Köhler. „Wenn wir nicht bald anfangen, wissenschaftlicher an die Sache heranzugehen, werden viele Extremisten unter dem Radar der Sicherheitsbehörden verschwinden“, sagt er. Videoüberwachung, Fußfesseln und umfangreichere Befugnisse der Polizei könnten die Gefahr nur kurzfristig eindämmen. Ohne erfolgreiche Ausstiegshilfen hätten diese Werkzeuge keine langfristige Wirkung.

Schürmann lehnt sich im Bürostuhl zurück – er ist sich sicher, dass aus dieser Haftanstalt niemand rausgeht, ohne erkannt worden zu sein. Doch was passiert, wenn klar ist, dass ein Insasse extremistisches Denken aufweist? „Wir geben den Leuten die Möglichkeit, mit Mitarbeitern unseres Ausstiegsprogramms zu reden“, sagt er. Hessen arbeitet mit dem Violence Prevention Network zusammen – genauso wie Baden-Württemberg, Bayern, Sachsen und Thüringen.

Bei der aktuellsten Auswertung des Violence Prevention Network handelt es sich um eine Prozessevaluation, die die Deutsche Hochschule der Polizei in Münster im Auftrag des baden-württembergischen Innenministeriums vorgenommen hat – das heißt: keine Kontrollgruppe, kein längerer Kontrollzeitraum, keine Aussage darüber, was bei den Maßnahmen herauskommt. „Das war auch nicht geplant“, sagt Benjamin Kraus, der als wissenschaftlicher Mitarbeiter aus dem Fachgebiet Kriminologie die Evaluation mitbetreut. Vielmehr sei überprüft worden, ob VPN mache, was es ankündige – nämlich beim Ausstieg unterstützen und radikalisierten Personen helfen, ihr extremistisches Gedankengut zu hinterfragen und auf Gewalt zu verzichten. Dies sei im Großen und Ganzen der Fall. Doch ob Extremisten wirklich langfristig ihrer Ideologie den Rücken zuwenden, wird so nicht erhoben. Wirksamkeitsevaluationen gelten nicht umsonst als anspruchsvoll: Der Zugang zu Daten, zu den Betroffenen – all dies setzt eine große Offenheit und Disziplin von Seiten der Deradikalisierungsprogramme voraus.

Was diese betrifft, herrscht extremer Wildwuchs. Die Bundeszentrale für politische Bildung führt in ihrer öffentlichen Datenbank aktuell bundesweit 80 Anlaufstellen für Präventions- und Deradikalsierungsmaßnahmen. Doch die Ziele und Standards unterscheiden sich stark. Ein Problem, das nicht nur in Deutschland existiert. Die Sozialpsychologen Allard Feddes und Marcello Gallucci kommen zu dem Ergebnis, dass im Zeitraum zwischen 1990 und 2014 gerade 55 Manuskripte auffindbar waren, in denen insgesamt 135 Personen, die sich einer Deradikalisierung unterzogen haben, untersucht wurden. Von diesen wenigen Teilnehmerstichproben wurde in nur zwölf Prozent der Fälle Deradikalisierungseffekte präsentiert. Sprich: Es lässt sich kaum bestimmen, was den Erfolg von Deradikalisierungsprogrammen ausmacht. Dazu müsste zunächst einmal definiert werden, was Erfolg überhaupt bedeutet.

Gewalt hat ein Ziel

Aus einem schmalen Fenster fällt mildes Licht in den Gefängnis-Gebetsraum. In der Ecke steht ein Madonnenbild mit zwei Kerzen davor. Hier predigt mal ein christlicher Pfarrer, mal der Imam. „Der Imam ist nicht mein verlängerter Arm“, sagt Schürmann, „aber manchmal bitte ich ihn, mit jemandem zu reden.“ Die meisten Islamisten seien nicht religiös gefestigt. Manchmal helfe es ihnen, sich mit jemandem auszutauschen, der seine Religion nicht ideologisch begreife. „Wir können Extremisten ohnehin nicht zwingen, mit uns zu reden“, sagt Schürmann. Auch die Mitarbeiter vom Violence Prevention Network kämen erst dann ins Spiel, wenn jemand gesprächsbereit sei. Doch wie redet man mit Extremisten? Wie deradikalisiert man sie?

In seinem Buch stellt Daniel Köhler die „Theorie des überlegten Handelns“ als Mechanismus vor. Die sozialpsychologische Theorie wurde 1975 von Martin Fishbein und Icek Ajzen entwickelt und geht davon aus, dass das Verhalten einer Person von ihrer Absicht bestimmt wird. Wendet jemand also Gewalt an, macht er das, weil er sich davon etwas verspricht. Es lohnt sich also zu fragen: Was erhofft sich die Person davon? Das Ziel ist es, das Ausüben von Gewalt zu entglorifizieren und dort einzuhaken, wo bereits Zweifel bei der radikalisierten Person herrschen.

Das funktioniert jedoch nur, wenn der Fragesteller eine hohe Glaubwürdigkeit genießt. Manchmal können Religionsgelehrte dabei helfen. Doch wer genau mit Gefährdern reden darf und wo deren Aufgabe beginnt und endet, sollte geregelt sein, findet Köhler.

Bis zur Mauer

Der Extremismusexperte hat deshalb im Auftrag des Innenministeriums Baden-Württemberg ein Handbuch geschrieben, das genau skizziert, auf was Deradikalisierungsprogramme achten sollten. Er plädiert für einheitliche Fallaufnahmen, Risikoanalysen und ein Aufnehmen der Gründe und Motive der Radikalisierung. „Wer mit staatlichen Geldern arbeitet, muss Mindeststandards an Integrität erfüllen, ist dies nicht der Fall, stellen solche Programme nicht nur eine Verschwendung von Ressourcen, sondern auch ein Sicherheitsrisiko dar“, sagt Köhler.

Es steht viel auf dem Spiel – auch Schürmann sollte nichts entgehen. Als er einen der unterirdischen Gänge der JVA entlangläuft, kommt ihm ein Dreierpulk von Kollegen entgegen. Sie scherzen und grinsen – wirken unbeschwert. Schürmann dagegen bleibt ernst. „Ich versuche bei der Arbeit keine Fehler zu machen“, sagt er. Er ist eines von vielen Gliedern in einer Kette, die das Risiko auf einen Anschlag verhindern sollen. Doch auch sein Einfluss endet an den 17 Meter hohen Mauern der JVA Frankfurt 1.

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