Antiquitäten

Spielzeug - ein Spiegel Der Zeit

Ob Luthers Kinder-Armbrust oder Theodor Fontanes Säbel - Spielzeuge sind naturgetreue Abbildungen der Erwachsenenwelt. Ein Antiquitätenhändler bei Berlin hat eine außergewöhnliche Sammlung zusammengetragen.

Von 
Thomas Olivier
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Klack, klack, klack: Auf blechernen Füßen wankt ein angetrunkener Hauptmann von Köpenick daher. Daneben beschattet ein bunter Mohr aus Metall seinen Herrn mit einem Sonnenschirm. "Bedienstete und Herrenmenschen! Typisch für das Obrigkeitsdenken der Kolonialherren um 1900!", lästert Claus-Peter Jörger.

Jörger ist Antiquitätenhändler und hütet seinen Spielzeug-Schatz, als handele es sich um die Goldreserven von Fort Knox. Spielzeug? "Hab' ich nie gehabt. Ich bin ein Kriegskind!" Seit fünf Jahrzehnten holt der 72 Jahre alte Wahl-Berliner das nach, was er als Bub im Schwarzwald so schmerzlich vermisst hat: Er sammelt Spielzeug wie kaum ein anderer in Deutschland. Unweit von Fontanes Birnbaum in Ribbeck (Havelland) horten Jörger und der Berliner Unternehmer Hans-Jürgen Thiedig einen Millionen-Schatz aus Blech, Holz, Plastik und Eisen: das Spielzeugmuseum Havelland, eine Autostunde westlich von Berlin.

Kinder und Erwachsene strömen zum Staunen und Träumen ins brandenburgische 350-Seelen-Dorf Klessen. Die ehemalige Dorfschule neben Gutsgarten und restauriertem Rokokoschloss birgt eine der erlesensten privaten Spielzeugsammlungen der Erde: In endlosen Vitrinen-Reihen und schwer gesichert staut sich hier 150 Jahre Spielzeuggeschichte: Puppen, Figuren und Holztiere, Schiffe, Autos und Flugzeuge, Baukästen, Ritterburgen, Spiele und Kaufmannsläden aus ganz Europa.

Das Spielzeug der Antike, des Mittelalters und der Renaissance war denkbar einfach: Die Römer kannten Kinderrasseln aus Bronze, Murmeln und den Kreisel. Unlängst wühlten sich Forscher durch die Abfälle von Luther. Die Wissenschaftler fanden Murmeln aus Ton, Pfeifvögel und Teile einer Spielzeugarmbrust aus Knochen. Für den kleinen Goethe war Weihnachten ein "Fest der wahrhaft schönen Dinge". Im "Wilhelm Meister" schwärmt der Dichterfürst von seinem "wunderbaren Puppenspiel", das er von der Großmutter geerbt hatte. Für das kleine Kindertheater schrieb er seine ersten Stücke.

Der kleine Theodor Fontane erhielt zu Weihnachten den heiß ersehnten Korbsäbel, Theodor Storm fand auf seinem Gabentisch "endlich eine scharfe Lupe für die Käfersammlung". Bis weit ins 19. Jahrhundert hatte Spielzeug vorwiegend lehrhaften Charakter. Aus dem Jungen sollte mal ein erfolgreicher Geschäftsmann oder ein Arbeiter werden, der Frau und Kind ernähren konnte. Trommeln, Burgen und Schießgewehr waren die ersehnten Knabenspielzeuge jener Zeit. Wer seinen Sohn später als schneidigen Offizier sehen wollte, schenkte ihm Uniform und Säbel.

Den Mädchen blieben Nähschulen, Handarbeitskästen - und Puppenstuben, die ab 1750 auf den Markt kamen. Die Töchter sollten rollengerecht perfekte Hausfrauen und Mütter werden. Puppenküchen um 1900 erzählen von der Mühsal der Hausfrau. Sammler Jörger deutet auf eine reich ausgestattete Puppenküche aus der Kaiserzeit. Eine liebevolle Einzelanfertigung für betuchte Familien mit Herd, Töpfen, Kupferpfannen, Kesseln, Tiegeln und zwergenhaftem Porzellan: "Sie sehen keine Kühlschränke, keine elektrischen Herde." Mit der Nutzung von Gas, später Elektrizität, hielt die Technik Anfang des 20. Jahrhunderts Einzug in die Privathaushalte - und parallel dazu in die Kinderwelt.

Die Gründerzeit gebiert eine ganze Welt aus Blech: Bunte Fantasiegestalten kurven auf Draisinen durch die Zimmer. Tiere werden vermenschlicht. Neben Nürnberg und Sonneberg steigt auch Brandenburg/Havel zur "Hauptstadt des Blechspielzeugs" auf. Lastwagen, Autos und unzählige, originell bewegte Tier- und Menschenfiguren aus Metall brachten nicht nur die Kinder in aller Welt zum Lachen.

Jede technische Neuerung hielt fast zeitgleich Einzug in die Kinderstube: Schon um 1850 rollten zu Weihnachten die ersten Spielzeugeisenbahnen. Zunächst noch als Bodenläufer ohne Schienen. Um 1900 tauchten die ersten Luftschiffe und Flugzeuge im Kleinformat auf. Kurz, nachdem das erste Auto fuhr, kam eine Miniatur-Ausgabe in den Handel. Ein kleiner Mercedes von 1910 im Spielzeugmuseum Havelland ist eine Welt-Rarität: Am Steuer sitzt Konstrukteurs-Gattin Berta Benz.

In den 1960er Jahren wird das Kind durch die Spielzeugindustrie entdeckt. Die elektrische Autorennbahn steigt zur ernsthaften Konkurrenz der Eisenbahn auf. Die schrille Barbie verdrängt die Schildkröt-Puppe. Heute belächeln Sechsjährige, was Zwölfjährige vor 20 Jahren noch begeisterte. Baby Born-Puppen können trinken und aufs Töpfchen gehen. Alles wie im "richtigen" Leben. Das Christkind kennt keine Krise: Mit 1,4 Milliarden Euro Umsatz, drei Prozent mehr als im Vorjahr, rechnet der Spielwaren-Einzelhandel zu Weihnachten 2012.

Zeittafel

1558: Ältestes bekanntes Puppenhaus für Herzog Albrecht V. von Bayern

1729: Deutsche Hersteller exportieren 1200 Zentner Holzspielzeug

1815: Erstes Blechspielzeug in Frankreich

1826: 40 Spielzeughersteller in Nürnberg

1846: 1500 Spielzeugarbeiter im Erzgebirge (Sachsen)

1870: Beginn der bedeutenden Metall-Spielzeug-Produktion in Brandenburg (Havel)

1880: Die berühmten Anker-Baukästen, eine Erfindung der Brüder Otto und Gustav Lilienthal, kommen in Rudolstadt (Thüringen) auf den Markt

1900: Im Obergericht Sonneberg (Thüringen) arbeiten 25 000 Menschen in der Spielzeugherstellung

1906: Erstes markengetreues Auto der Welt in Frankreich: ein Renault

1948: Ein elektrischer Puppenherd kostet 29 D-Mark, Dreiviertel des zur Währungsreform ausgezahlten Kopfgeldes

1955: Elektrische Eisenbahnen sind der Renner zu Weihachten. Preis: bis zu 400 Mark

1965: Puppen können sprechen und Pipi machen

2012: Weltumsatz Spielzeug 2011: ca. 85 Milliarden Dollar. Nach USA, Japan und Frankreich belegt Deutschland mit vier Milliarden Euro Rang sechs. T. O.

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