Wilhelm Schmid rät dazu, nicht mehr nach dem Glück, sondern nach dem Sinn im Leben zu suchen. Im Gespräch verrät der freie Philosoph und Autor von Lebenshilfebüchern, warum viele Beziehungen heutzutage scheitern und warum die Menschen mit zu viel Freiheit nicht gut zurecht kommen.
Sie schreiben in Ihrem Buch „Selbstfreundschaft“, dass ein erfülltes Leben nicht zwangsläufig gelingen muss. Worin besteht für Sie der Unterschied?
Wilhelm Schmid: Unter Gelingen verstehen die Menschen gemeinhin, dass etwas gut geht. Aber was ist mit den Aspekten, die das Leben eben auch bereithält? Krankheit, das Zerbrechen einer Beziehung und das Scheitern. Es ist sinnlos, ein gelingendes Leben anzustreben. Die Fülle des Lebens besteht auch in den Abgründen, die wir Menschen haben, und den Rückschlägen, die wir einstecken müssen. Besser ist es also, von einem bejahenden Leben zu sprechen, in dem Sinn, dass wir auch dann Ja zum Leben sagen können, wenn etwas schiefläuft.
Ist es nicht menschlich zu hoffen, dass alles gut geht?
Schmid: Die Menschen setzen die Messlatte heutzutage ganz hoch oben an. Alles soll pausenlos gut gehen. Aber was spricht dagegen, die Erwartungen zurückzuschrauben?
Was gewinnen wir denn dadurch?
Schmid: Ein geringeres Maß an Enttäuschungen. Viele versuchen, lustvolle Erfahrungen zu maximieren und Schmerzen zu eliminieren. Zugegeben: Philosophen wie John Locke und Jeremy Bentham sind nicht unschuldig an diesem modernen Streben nach Glück und Lust. Aber stellen Sie sich vor, Sie haben Lust auf Sex. Und sie maximieren diese lustvolle Erfahrung, haben also Tag und Nacht Sex. Da haben Sie dann aber auch schnell genug davon.
Gesetzt den Fall nach der Lust kommt der Überdruss. Was bedeutet das, wenn man es auf Glücksmomente bezieht? Macht zu viel Glück träge, egoistisch und faul?
Schmid: Ja, das ist ein Grund für meine Skepsis gegen die ständige Rede vom Glück. Die Glücksforschung macht die Menschen unglücklich. Auch wenn sie behauptet, es gehe um Zufriedenheit. Große Leistungen der Menschheit sind nicht aus Zufriedenheit entstanden. Schauen Sie sich die Biografien von Michelangelo, Vincent van Gogh, Edvard Munch und anderen Künstlern an. Ihr Unglücklichsein trieb sie an.
Als ob Menschen, denen es gut geht, keine Leidenschaft und Hingabe entwickeln könnten! Die Ergebnisse der Glücksforschung sprechen jedenfalls dagegen.
Schmid: Die Glücksforschung ist nicht in der Lage, zwischen Glück und Sinn zu unterscheiden. Sinn ist wichtiger als Glück, Eltern wissen das. Selbst dann, wenn sie nicht glücklich über ihre Kinder sind, würden sie nie den Sinn ihrer Existenz in Frage stellen.
Die kommt zu dem Schluss, dass selbstbestimmte, sozial eingebundene Menschen, die von ihrem Tun erfüllt sind, gute Chancen auf ein Leben haben, das sie als sinnvoll empfinden.
Schmid: Selbstbestimmt – dazu kann ich nur sagen: Das ewige Streben nach Selbstbestimmung ist der Tod von zwischenmenschlichen Beziehungen. Es wäre besser, bereit zu sein, von dieser permanenten Selbstbestimmung abzulassen.
Aber zwischen Selbstbestimmung und Fremdbestimmung gibt es doch Abstufungen.
Schmid: Als ich zwischen 20 und 30 war, brach sich die Idee der Selbstbestimmung gerade Bahn. Das war die Zeit, als Beziehungen anfingen zu zerbrechen, weil jeder sein Ding durchziehen wollte. Es ist ein Problem der fortgeschrittenen Moderne. Niemand wünscht sich die Zeit zurück, in denen Autoritäten bestimmten, aber die Geschichte neigt zu Pendelbewegungen. Erst zu viel Fremd-, jetzt zu viel Selbstbestimmung. Wir finden kein Maß.
Wann hat sich diese Einsicht bei Ihnen durchgesetzt?
Schmid: Ungefähr nach der zehnten gescheiterten Beziehung. Da musste ich mir vergegenwärtigen, dass es so nicht funktioniert. Wohl auch aus diesem Grund bin ich nun seit 35 Jahren mit ein und derselben Frau zusammen.
Kam dann die Einsicht von Ihnen selbst oder lag das an ihrer Frau?
Schmid: Das lag ganz stark an meiner Frau. Sie hatte eine Engelsgeduld mit mir.
Wie haben Ihre vier Kinder ihr Leben geprägt?
Schmid: Mit den Kindern habe ich gelernt, die Welt neu zu sehen. Gerade mit den beiden Jüngeren aus zweiter Ehe habe ich viel Zeit verbracht, oft auf ihrer Ebene. Aus dieser Perspektive sieht die Welt ganz anders aus.
Wieso erst bei den Jüngeren?
Schmid: Weil mir da klar wurde, dass ich auf Grund meines Alters nicht mehr viele Chancen haben werde, ein Kind so direkt aufwachsen zu sehen. Diese Idee kam mir bei den ersten beiden leider nicht. Bei ihnen war ich zwischen 20 und 30.
Sie plädieren dafür, sich selbst ein Freund zu sein, seine Schwächen anzunehmen. Ist das die Gegenbewegung zur Selbstoptimierung?
Schmid: Ich möchte nicht falsch verstanden werden. Ich bin ein großer Freund der Selbstoptimierung. In diesem Begriff steckt „Optimum“, also das Beste. Darum geht es doch wohl im Leben, das Beste aus sich zu machen, als Mensch, als Partner, als Vater und Mutter. Aber das heißt nicht Perfektion. Menschen sind nun mal nicht perfekt.
Stimmt.
Schmid: Gerade die Menschen, die sich auf übertriebene Weise selbst lieben, leiden darunter, dass sie nicht perfekt sind. Aber warum? Selbstzweifel gehören zum Leben dazu. Und bei allen Zweifeln kommen wir nicht umhin, Entscheidungen im Leben zu treffen, die falsch sein können. Wir müssen uns festlegen und auf einen Teil unserer Freiheit verzichten, um wirklich etwas zu realisieren und uns nicht in den vielen Möglichkeiten zu verlieren, die heute von vielen beklagt werden, während Menschen in einer Kultur wie Indien beklagen, keine Möglichkeiten zu haben. Etwa die Entscheidung für einen Beruf, einen Partner, für oder gegen eine Familie. Und manche Dinge werden wir nie erreichen, das hat das Leben so an sich.
Freiheit setzt uns unter Druck?
Schmid: Die Menschen kommen mit der Freiheit nicht gut zurecht. Unsere Kultur ist noch völlig darauf fixiert, die Freiheit als Befreiung von unguten Verhältnissen zu verstehen. Das ist eine wichtige Freiheit, aber nur der erste Teil. Der zweite Teil besteht darin, mit der Freiheit umgehen zu lernen, ihr Formen zu geben, eben sich festzulegen und damit auch wieder auf einen Teil von Freiheit zu verzichten. Aus Freiheit.
Wilhelm Schmid
- Selbstfreundschaft, Gelassenheit, Liebe, Glück, Unglücklich sein lauten die Titel der Lebenshilfebücher von Wilhelm Schmid. Der freie Philosoph wuchs als viertes von sechs Kindern auf einem Bauernhof in Bayerisch-Schwaben auf und lebt heute in Berlin.
- Seine in Tübingen geschriebene Doktorarbeit über Michel Foucault brachte ihm den Kontakt zum Suhrkamp-Verlag ein, in dem er seither publiziert. 1998 erschien dort auch sein grundlegendes Werk Philosophie der Lebenskunst.
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