Musikalisches Spiel vorm Spiel

Nationalhymnen sind der vertonte Stolz der Nationen und fester Bestandteil der kommenden Fußball-WM. Aus gegebenem Anlass ein Blick aufs heikelste Musikgenre der Welt.

Von 
Gunnar Leue
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Fans der deutschen Fußball-Nationalmannschaft singen die deutsche Nationalhymne. © dpa

2005 sorgten die Relegationsspiele zur WM-Qualifikation zwischen der Türkei und der Schweiz zu einem schweren bilateralen Zerwürfnis. Nachdem die Schweizer Zuschauer beim Hinspiel die türkische Nationalhymne mit Pfiffen begleitet hatten, revanchierten sich die gekränkten Türken beim Rückspiel mit Schmähungen übelster Art. Woraufhin der damalige FIFA-Boss Joseph Blatter das musikalische Vorspiel komplett abschaffen wollte. Eine seiner klügeren Ideen, denn der Fan-Forscher und Sportsoziologe Professor Gunter Pilz bestätigte ihm seinerzeit: „Von den Fans wird die Nationalhymne schlicht zur Provokation von Mannschaft und Fans des Gegners genutzt.“

Andererseits gehören Hymnen doch irgendwie dazu. Sie sind zwar nicht explizit für den Sport erdacht, finden aber dort einen besonders üppigen Aufführungsrahmen. Zur Siegerehrung bei internationalen Wettkämpfen gehört schließlich stets die Nationalhymne für den Gewinner. In China steht sogar ausdrücklich im Gesetz, dass die Hymne des Landes nur bei großen Sportereignissen gespielt werden darf (und offiziellen Veranstaltungen wie diplomatischen Anlässen), ansonsten droht Gefängnis. Seit kurzem nicht nur zwei Wochen, sondern maximal drei Jahre.

Das Miteinander von Sport und (National-)Musik steht vielerorts unter besonderer Beobachtung – auch in Deutschland. Als Christoph Harting 2016 nach seinem überraschenden Olympiasieg im Diskuswerfen aufgekratzt vor Freude auf dem Siegertreppchen herumhampelte und beschwingt zur deutschen Hymne schunkelte, machte das viele Couch-Patrioten vor den Fernsehgeräten daheim ganz wuschig. Als deutscher Herold zur Hymne tänzeln und obendrein feststellen, dass das gar nicht so einfach ist – für manche ist das genauso schlimm wie Nichtmitsingen. So wie es AfD-Chefin Alice Weidel dem Fußballnationalspieler Özil aus aktuellem Anlass gerade wieder vorhielt.

Weniger aufschäumende Auswirkungen der Verflechtung von Nationalsport und Nationalhymne kann man in der „Schland“-Ecke eines kleinen Wolfsburger Museum betrachten. Es steht im Ortsteil Fallersleben, dem Geburtsort von August Heinrich Hoffmann, welcher 1841 das staatliche Einheit und patriotische Freiheit herbeisehnende „Lied der Deutschen“ (auf die Haydn-Melodie „Gott erhalte Franz, den Kaiser“) verfasste. Im Fallersleben-Museum gibt es lauter schwarz-rot-goldene Fußball-Fanartikel und eine Karaoke-Station, an der Besucher die deutsche Nationalhymne mitsingen können. Außerdem kann man sich die Hymne auch in anderen Sprachen und von gemischten Ensembles anhören – sogar als Jodelnummer.

Bemerkenswerte Imagepolitur

Die museale Verknüpfung von deutscher Hymnen- und Fußballgeschichte soll zeigen, dass der neue, ungezwungene Umgang der Deutschen mit ihrer Hymne und anderen Nationalsymbolen sehr viel mit dem populären Ballsport zu tun hat. Konkret mit der „Sommermärchen“-WM 2006, als sich die Deutschen schwarz-rot-goldene Fähnchen an die Autos klemmten und beim Public Viewing – gern bierselig – die Hymne schmetterten. Deshalb wird im Museum auch die Geschichte von der Imagepolitur der ungeliebten Nationalhymne erzählt. Denn bis dato war sie ja nicht allzu beliebt, zumindest im Vergleich zu jenen anderer Nationen. Das hat natürlich mit der NS-Zeit zu tun, in der die Nazis aus dem patriotischen Lied einen stiefeltrittfesten Herrenmenschen-über-alles-Kracher gemacht hatten, was letztlich dazu führte, dass das „Lied der Deutschen“ zwar noch offizielle Nationalhymne ist, aber nur noch mit einer – der dritten – Gesangsstrophe.

Auch die zweite Strophe fiel durch den Rost, eher wegen Kitschgefahr: „Deutsche Frauen, deutsche Treue/ Deutscher Wein und deutscher Sang/ Sollen in der Welt behalten/ Ihren alten schönen Klang“ heißt es da. Man stelle sich vor, die körperlich und ernährungstechnisch optimierten DFB-Spitzenkicker sängen zum obligatorischen musikalischen Auftakt der WM-Spiele quasi solch ein patriotisches, noch dazu unter heutigen Gendergesichtspunkten bedenkliches Trinklied – das wäre echt irre. Andererseits wäre es vielleicht nicht nur das perfekte Lied zum Image Deutschlands in der Welt – die denkt eh, es sei ein einziges Bayern mit Dirndl-Mädels, „G’suffa“ und Gesang –, es würde auch zum heutigen Entertainment-Charakter der Fußball-WM-Turniere passen.

Die Nationalhymen gehörten schon immer zum Rahmenprogramm vor Länderspielen, sind aber erst in den vergangenen 20 Jahren in den Sog der Popmanie rund um den Fußball geworden. Das zeigt sich auch darin, dass Popstars aus der Musikszene gelegentlich die Popstars des Fußballs bei Länderspielen unterstützen dürfen – und damit auch mal Aufruhr auslösen, wenn sie sich bei der Nationalhymne versingen. Man denke nur an Sarah Connor 2005 in München.

Nationalhymnen als Gesangsbeitrag von Popstars des jeweiligen Landes gibt es bei den Weltmeisterschaften (noch) nicht. Dort kommen sie nur als Militärkapellenversion vom Band, was ihren künstlerischen Erlebniswert zunichtemacht. Trotzdem wird das größte Sportevent der Welt auf diese Art nebenbei zu einem Festival der Länderlieder.

Was ist eigentlich in den Hymnen anderer Länder – WM-Teilnahme hin oder her – so los? Die italienischen Spieler zum Beispiel müssen stets an die 20 Mal mitsingen: „Wir sind bereit zum Tod.“ Vielleicht hatten sie deshalb erstmals seit 60 Jahren keine Lust, sich zu qualifizieren.

Anders als die Kicker Japans, die treues Mitsingen der Hymne schon aus der Schulzeit gewohnt sind. Wer sich als Schüler oder Lehrer dem Ritual beim morgendlichen Schulappell verweigert, kriegt Ärger. Renitente Pädagogen wurden schon bis zu einem halben Jahr vom Dienst suspendiert und mit Gehaltskürzungen bestraft. Wäre Prinzipienreiterei eine olympische Sportart, die Japaner wären also weit vorn dabei.

Allerdings stellt sich die Frage, was mit knallhart verordneten Anbetungen der Nationalhymne bezweckt werden soll – handelt es sich doch textlich eher um Allerweltslieder. In vielen der heute rund 200 existierenden Nationalhymnen wird praktisch das Gleiche gesungen. Da unterscheiden sie sich wenig vom Schlager, der auch nur aus drei dünnen roten Fäden gestrickt ist: Freiheit und Glück, unsterbliche Liebe, ewige Treue. Bei den Nationalhymen – die vor allem gegen Ende des 18. Jahrhunderts mit den modernen Nationalstaaten entstanden – ist die Angebetete halt die Nation.

Immerhin klingt Pathos nicht überall gleich. Vom opernhaften Lied bis zum Tschinderassa gibt’s im Hymnen-Genre ein breites Angebot. So orientierten sich die Südamerikaner gern an italienischen Opern, während die Polen mit einer zünftigen Mazurka Unbeugsamkeit und Nationalstolz ausdrücken. Ebenso besteht textlich große Vielfalt im Genre: Sie reicht von der Lobpreisung ohne Worte in Spaniens „Kaisermarsch“ bis zum 158 Strophen-Epos zur Huldigung Griechenlands.

Skurrile Geschichten

Einen Kontrast zur pathetischen Aufladung der Nationallieder bilden nicht selten die skurrilen Entstehungsgeschichten. Besonders hübsch ist die von Costa Rica. Drei Tage vor einem Diplomatenempfang fiel das Fehlen einer eigenen Hymne auf – so wurde fix der Chef der Militärkapelle eingesperrt, damit er sich in der Zelle ganz aufs Komponieren konzentrieren konnte.

Dass Nationen sich von ihren Hymnen trennen, geht meist mit einem Wechsel der Machthaber oder gar mit dem Ende des Staats einher. Nach dem Sieg des Proletariats bei der russischen Oktoberevolution kürten die Bolschewiki 1922 die Welthymne der sozialistischen Arbeiterbewegung „Die Internationale“ zur Staatshymne der Sowjetunion – bis Stalin 1943 eine neue Hymne in Auftrag gab.

Zur „Internationalen“ gibt es eine Randgeschichte, die auch eine Fußball-Facette hat. Der aus Franken stammende Musikmanager Hans Beierlein – der vor der Fußball-WM 1974 die Schallplatte „Fußball ist unser Leben“ mit der DFB-Elf einsingen ließ und somit als Erfinder der singenden Fußballnationalmannschaft gilt – hatte viele Jahre die Ostblockstaaten für die Verwendung der „Internationale“ zahlen lassen. Beierlein, auch mal Manager von Udo Jürgens, hatte sich dank seines grandiosen geschäftlichen Gespürs 1970 die Rechte an der 1888 von zwei französischen Arbeitern geschriebenen „Internationale“ gesichert. Obwohl es die „Nationalhymne der Kommunisten“ war, wie Beierlein sie nannte, wurde sie weder vor den WM-Qualifikationsspielen noch bei den WM-Turnierspielen der Ostblock-Staaten intoniert. Pech für den damaligen Rechteinhaber.

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