Die Weltgemeinschaft verfolgt seit einigen Monaten ungläubig, was da an guten Nachrichten aus Nordkorea kam. Speziell seit den Olympischen Winterspielen im südkoreanischen Pyeongchang hatte sich ein Tauwetter über die koreanische Halbinsel gelegt, das in einem Hoch am 12. Juni in Singapur münden sollte. Doch Donald Trump hat das geplante Gipfeltreffen mit Kim Jong-un abgesagt, der US-Präsident hat Nordkoreas Machthaber die Schuld dafür zugeschoben, die Hoffnung auf Frieden ist zunächst einmal geplatzt.
Zu den bemerkenswert freundlichen, allerdings auch fragilen Signalen aus Pjöngjang, mit denen die Entspannung begann, zählte die Entsendung von Cheerleadern und Musikern zu den Olympischen Spielen. Sie gehörten zur 140-köpfigen Künstlergruppe des Samijiyon-Orchesters. Auch über den Auftritt der Mädchenband Moranbong war gemutmaßt worden. Global erlangte die mit E-Gitarre, weißem Klavier, goldenem Saxophon und in Miniröcken auftretende Gruppe eine gewisse Berühmtheit, weil sie 2012 auf Veranlassung des Obersten Führers Kim Jong-un gecastet wurde. Ihren Landesvater besingt sie gern mit flauschigen Worten („Wie kann er so nett sein, sein Lächeln ist so warm und süß“), ebenso die Partei und die Armee. Musikalisch würde das auch in die Carmen-Nebel-Sendung passen, nur dass bei den Bühnenshows im Hintergrund Raketenstarts und Bilder aus der sozialistischen Produktion zu sehen sind.
Mit Musik beschallte Plätze
Zum Moranbong-Konzert kam es bei Olympia zwar nicht, trotzdem staunte die Welt: Cheerleader und Mädchenbands – das passt eigentlich nicht ins Klischeebild vom Propagandawesen im Kim-Reich. Tatsächlich sind sie aber Teil der nordkoreanischen Popkultur, wenn man sie mal so bezeichnen will.
Der Kult um Führer, Partei, Armee und sozialistischen Aufbau wird stark von Musik und Beschallung aller Art im öffentlichen Raum geprägt. So gibt es – zumindest in der wärmeren Jahreszeit – jeden Morgen gegen sieben Uhr ein besonderes Schauspiel auf dem Vorplatz des Pjöngjanger Hauptbahnhofs, an dessen Fassade zwei Porträtbilder der verstorbenen Führer Kim Il-sung und Kim Jong-il hängen. Unter den Augen des „Ewigen Präsidenten“ und des „Ewigen Generalsekretärs“ treten etwa 200 kostümierte Frauen auf. Sie bewegen sich zur Musik aus einem Lautsprecherwagen nach einer einstudierten Choreografie, mal mit Pauken, mal mit roten Fahnen, die sie über ihren Köpfen schwenken. Die professionelle Beschwingtheit erinnert an ein Fernsehballett, hat mit Unterhaltung aber nur bedingt zu tun.
Die morgendliche rhythmische Massengymnastik dient der Motivation der Werktätigen, die auf dem Weg zur Arbeit sind oder auf den Baustellen ringsum werkeln. Motivationsmusik nennen es die Nordkoreaner. Die Kleinbusse mit Lautsprechern auf dem Dach heißen Motivationswagen. Sie sind überall in der Stadt zu sehen, wo sie die öffentlichen Plätze mit Verlautbarungen, Losungen und Musik beschallen.
Musik hat in Nordkorea enormen Stellenwert. Wer ein Instrument beherrscht, wird in der Gesellschaft und beim Wehrdienst bevorzugt. Das Prinzip „Kunst als Waffe“ wird allumfassend umgesetzt. Deshalb werden Touristen und Nordkoreaner schon im Koryo-Air-Flieger von Peking nach Pjöngjang mit Musikvideos im Bord-TV eingegroovt: vom Militärensemble Merited State Chorus of the Korean People’s Army, dessen pathetischer Easy-Listening-Marsch enorm populär ist, oder eben von Moranbong.
Die ersten Eindrücke, die Touristen – rund 6000 kommen jährlich aus dem Westen – nach der Ankunft in Pjöngjang bekommen, sind die Straßenränder auf der Fahrt vom Flughafen zum Hotel. Die Ahorn- und Ginkgobäume, die vielen Hochhäuser und die bunten Propagandabilder auf riesigen Steinwänden. Dass die insbesondere für westliche Ausländer eine Attraktion sind, wissen auch die Nordkoreaner. Deshalb gibt es in den Touri-Shops Propagandabilder als Postkarten oder auf Briefmarken käuflich zu erwerben. Deviseneinnahmen sind wichtig.
In den Straßen erblickt man erstaunlicherweise relativ viel Deutsches: deutsches Bier, deutsche Autos, Kati Witt auf einer nordkoreanischen Marke in der Briefmarkenausstellung. Auch alte Berliner U-Bahn-Wagen kann man entdecken. Ende der 1990er Jahre wurden etliche ausgemusterte Züge nach Nordkorea verkauft. Dort befahren die nun nicht mehr gelb, sondern rot und cremefarben lackierten Zügen das aus zwei Linien bestehende U-Bahn-Netz.
Als Tourist darf man sogar mal mitfahren, natürlich nur in Begleitung der Guides. Generell ist es nahezu unmöglich, überhaupt mal mit Einheimischen außerhalb des Hotels in Kontakt zu kommen.
Und das Programm für Touris ist straff durchorganisiert: Kim Il-sung-Ehrenmal, dem Großvater des jetzigen Machthabers geweiht, Muster-Dorfkooperative, Bowlingbahn, Parteidenkmal, Demarkationslinie, Tempelanlage, Vorzeige-Staudamm, Klassikkonzert in der Philharmonie und wieder ab in den Bus. Pjöngjang wirkt mit seinen fast leeren Straßen wie ein Bühnenbild. Die Einheimischen schauen meistens an den Fremden vorbei. Im Kontrast zu den Reiseleitern, die charmant – aber immer auf Linie – plaudern.
Doch mit manchen Fragen scheinen sie überfordert zu sein. Zum Beispiel, warum Nordkorea – trotz der Abwesenheit von Jazz- und Rockmusik im Land – 2015 ausgerechnet der slowenischen Band Laibach mit ihrem Provokationsrock („1,2,3,4, wir tanzen mit Totalitarismus/ Wir tanzen mit Faschismus/ Und roter Anarchie“) ein Konzert in Pjöngjang ermöglichte. Das ausgewählte Publikum schien jedenfalls sehr verwirrt. In der Parteizeitung stand anschließend auch nur eine kleine Konzertnotiz, in der die „hohen musikalischen und technischen Fertigkeiten“ der Gruppe gelobt wurden. Einen Mitschnitt, gar eine DVD vom Auftritt gab es nicht.
Unterhaltung mit Zweck
Überhaupt ist das Angebot an heimischen Tonträgern, die Touristen in Souvenirläden kaufen können, überschaubar. Auf den CDs und DVDs des Korean Gramophon Record-Labels sind vor allem Militärensembles (und Moranbong) verewigt. Sie laufen auf Flachbildschirmen in Restaurants, Hotellobbys, selbst am Eingang eines Vergnügungsparks. Nordkoreanische Popkultur heißt: Musik und Gesang, vor allem in Form von Lobliedern auf die Führer, an jedem Ort. Ob im Touristenbus oder auf dem Fußweg zum Geburtshaus des heilig verehrten Republikgründers Kim Il-sung. Die sanften Liedklänge zur Begleitung kommen dort aus Büschen, in denen Lautsprecher versteckt sind.
Die Dauerpräsenz von Musik im öffentlichen Leben Nordkoreas hat einen zutiefst politischen Grund. „Musik ohne Politik ist wie eine Blume ohne Duft und Politik ohne Musik ist wie eine Regierung ohne Herz“, hat Kim Jong-il einst verkündet. Bis heute wird Musik in dem Land so sehr wie nirgendwo sonst auf der Welt zur Führer-, Partei-, Armee- und Heimatverehrung benutzt. Wie überhaupt die ganze Volksunterhaltung.
Besonders eindrucksvoll zu erleben ist das im Pjöngjanger Staatszirkus. Wenn die Artisten in die Manege einlaufen, ist das der Beginn einer in jeder Hinsicht einmaligen Show. Während die jungen Akrobaten riskant durch die Lüfte wirbeln, läuft auf dem großen Bildschirm im Hintergrund die visuelle Botschaft: ein Hoch auf uns und unser Land. Sportlich geht es bei der Propaganda zu, subtil nicht. Als ein Artist raketengleich durch die Luft fliegt und auf den Schultern eines Kollegen landet, beginnt auf dem Bildschirm Geballer aus allen Rohren: aus Stalinorgeln, Panzern, Raketenabschussrampen. Durch den Saal fegt dann stets eine Applauswelle.
Inwiefern die Nordkoreaner Karaoke frönen – ihre Landsleute im Süden gelten immerhin als das karaokeverrückteste Volk der Welt –, kann man dagegen nur erahnen. Zwar erblickt man hier und da in Pjöngjang kleine Karaoke-Maschinen (zum Beispiel in einem Museumsfoyer), aber keine Karaoke-Bars. Eine gibt es jedoch im von Westtouristen bewohnten Koryo-Hotel, und in der feiert sogar der auf aggressiven Propagandapostern niedergerungene Erzfeind USA fröhliche Auferstehung – in Form von Frank-Sinatra- und John-Denver-Songs. Wie man ja spätestens seit der Disney-Figuren-Show für Kim Jong-un 2012 weiß, nimmt man es beim Thema Unterhaltung mit dem Amerika-Hass nicht so genau.
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