Lügen erfordert kein Talent

Wie oft flunkern wir am Tag? Und ändert sich das im Lauf unseres Lebens? Damit beschäftigt sich die Würzburger Psychologin und Lügenforscherin Kristina Suchotzki – und auch mit der Frage, welche Auswirkungen Fake News auf menschliches Verhalten haben.

Von 
Gunnar Leue
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Die meisten Menschen lügen täglich, sagt Forscherin Kristina Suchotzki. Meist sind die Signale nicht so offensichtlich wie auf diesem Symbolbild. © dpa/Privat

Kristina Suchotzki (Bild) erhielt 2016 als Teammitglied für ihre Forschung den Ig-Nobelpreis für Psychologie. Ig steht für „ignoble“ (Englisch: unwürdig), passender wäre aber eigentlich: etwas skurril, aber allemal würdig. Der Preis ehrt Errungenschaften, die Menschen zum Lachen und dann zum Denken bringen. Ein Gespräch über Voraussetzungen fürs Lügen, kulturelle Unterschiede und natürlich die ewige Frage, ob Männer oder Frauen besser lügen.

Frau Suchotzki, Picassos Maxime lautet „Kunst ist eine Lüge, die uns die Wahrheit begreifen lehrt“. Das Lügenmuseum in Radebeul veranstaltete schon Lügenbälle, an dem die Menschen ihre Mitbürger mit Schwindeleien „in den April schicken“. Lügen macht einfach Spaß, oder?

Kristina Suchotzki: Natürlich, denken Sie auch an Zauberer oder Gaukler. Menschen begeben sich gern mal freiwillig in Situationen, wo sie quasi angeflunkert werden wollen. Das Lügen hat auf jeden Fall auch positive Facetten, es kann interessant und unterhaltsam sein.

Obwohl seit Menschengedenken gelogen wird, gibt es – im Vergleich zu anderen Wissenschaftszweigen – relativ wenige Forschungserkenntnisse. Warum?

Suchotzki: Unter Wissenschaftlern war das Thema lange Zeit als zu „populärwissenschaftlich“ verschrien. Zudem ist Lügen ein sehr komplexes Verhalten und nicht einfach im Labor zu erforschen. Mich interessiert, was der Mensch eigentlich können muss, um lügen zu können. Lügen ist ja auch deshalb so spannend, weil es eine gewisse Fertigkeit erfordert. Darum ist es bei Kindern ein gutes Zeichen, wenn sie zu lügen anfangen. Ohne die Fähigkeit zum Perspektivwechsel und das Wissen, dass die andere Person nicht genau das Gleiche weiß, kann man nicht lügen.

Von Befragungen, bei denen Menschen um Selbsteinschätzungen gebeten werden, weiß man, dass dort oft gelogen wird.

Suchotzki: Das stimmt, gerade bei sensiblen Themen. Auch wenn man direkt fragt, wie oft jemand am Tag lügt, muss man sich ironischerweise darauf verlassen, dass die Befragten die Wahrheit sagen. Wir verwenden daher für unsere Labor-Experimente oft kleine Rollenspiele, sogenannte Scheinverbrechen.

In einer Untersuchung namens ,Pinocchio-Studie’ haben Sie mit internationalen Forscherkollegen herausgefunden, dass Menschen im Schnitt zweimal täglich lügen, davon am meisten Teenager zwischen 13 und 17 Jahren. Kinder und Ältere lügen hingegen weniger – weil sie es noch nicht beziehungsweise nicht mehr so gut können?

Suchotzki: Dass Menschen im Schnitt ein- bis zweimal täglich lügen, wurde schon vor 20 Jahren in einer großen Studie festgestellt. Uns hatte interessiert, inwiefern sich die Lügenhäufigkeit und die Lügenfähigkeit über die Lebensspanne verändern. Kinder und ältere Erwachsene scheinen tatsächlich weniger zu lügen und dies auch weniger gut zu können. Eine denkbare Erklärung ist, dass man, um lügen zu können, die sogenannte Reaktionshemmung braucht. Wenn man etwas gefragt wird, will man eigentlich automatisch wahrheitsgetreu antworten. Um zu verhindern, dass die Wahrheit aus einem heraussprudelt, braucht es die Reaktionshemmung. Bei Kleinkindern ist die kaum ausgeprägt, das kommt erst bei jungen Erwachsenen, und bei älteren Erwachsenen lässt sie dann wieder nach.

Gibt es die Lüge als universelle Erfahrung schon immer oder ist sie eher ein kulturelles Konstrukt wie zum Beispiel die romantische Liebe, die erst vor gut 200 Jahren erfunden wurde?

Suchotzki: Die Lüge gibt es als menschliches Phänomen schon sehr lange. Bereits die griechischen Philosophen hatten überlegt, wie man die Lüge überhaupt definieren und bewerten kann. Ist Lügen per sé moralisch schlecht? Oder ist es an sich neutral, und entscheidet erst der Zweck über die moralische Bewertung?

Dass die Lüge als etwas Verwerfliches gilt, ist keineswegs eine allgemeingültige Vorstellung?

Suchotzki: Das haben wir zwar in unserer Studie nicht erfragt, aber man kann schon feststellen, dass Lügen für die meisten Menschen etwas relativ Alltägliches zu sein scheinen. Bei den meisten der ein bis zwei täglichen Lügen handelt es sich auch eher um kleine, selbstdienliche Lügen. Sie schaden keinem richtig, sondern helfen dem Lügner eher, kleine Fehler zu verdecken oder sich in einem besseren Licht darzustellen. Es gibt ja etliche Gedankenexperimente, was wohl wäre, wenn wir alle gar nicht mehr lügen könnten und ob das überhaupt erstrebenswert ist. Bestimmte Formen der Lüge sind ja auch stark in unserer Kultur verankert, zum Beispiel als Teil von Höflichkeitskonventionen. Dass man einen Vortrag doof findet oder dass jemand in einem Kleid, das 300 Euro gekostet hat, nicht so gut aussieht – das möchte der Fragende wohl nicht unbedingt hören.

Bewerten die Menschen auf der Welt, genauso wie die Forscher, unterschiedlich, was überhaupt eine Lüge ist?

Suchotzki: Es gibt auf jeden Fall Unterschiede, was Menschen als Lüge ansehen und dementsprechend auch für moralisch vertretbar halten. Es gibt etwa Kulturen, in denen man, wenn man nach dem Weg fragt, lieber in die falsche Richtung geschickt wird, als dass der Befragte angibt, diese nicht zu kennen. Unter manchen Umständen ist in solchen Kulturen die Höflichkeit wichtiger als die Wahrheit, und das wird von den Menschen auch akzeptiert. Übergreifend wird eine Lüge meistens als Versuch definiert, jemanden bewusst hinters Licht zu führen. Und das ist bei Höflichkeiten ja nicht der Fall. Wenn Amerikaner fragen: ,How are you?’, erwarten sie gar keine ehrliche Antwort.

Wird die Vorstellung und Akzeptanz von Lügen eigentlich, ähnlich wie bei der Liebe, auch von Literatur und Filmen geprägt?

Suchotzki: Was der Einzelne als Lüge betrachtet, wird davon weniger beeinflusst, weil die meisten davon eine recht intuitive Vorstellung haben. Bei der moralischen Bewertung sieht das je nach Kontext schon anders aus. Die wird durch den Zeitgeist, durch Filme und Medien beeinflusst. Logisch, denn Lügen spielen ja in vielen Bereichen eine zentrale Rolle. Es gibt kaum Filme und Bücher, die ohne Lügen auskommen – schließlich ist es das, was unser Verhalten interessant macht.

Politikern haftet klischeebedingt das Image von Lügnern an. Aber zur Lüge gehören ja immer zwei. „Wollen“ viele Wähler mit Wahlversprechen belogen werden?

Suchotzki: Gerade die Entwicklung unter dem Stichwort Fake News ist sehr interessant und führt auch zu neuen Herausforderungen für die Forschung. Die herkömmliche Definition der Lüge trifft es vermutlich nicht immer, da viele Wähler gar nicht zu erwarten scheinen, dass man ihnen immer die Wahrheit erzählt. Wenn Trump zum Beispiel etwas verspricht, wissen einige seiner Wähler, dass sie ihn nicht beim Wort nehmen müssen. Sie reagieren eher auf die unterliegende Botschaft als auf den genauen Wortlaut. Inwieweit ist das dann noch eine Lüge, wenn beide Seiten die Unwahrheit akzeptieren? In der Forschung werden deshalb schon andere Begrifflichkeiten gesucht, etwa das Stichwort „Bullshitting“.

Heiratsschwindler, Hochstapler, manische Ehebetrüger – sind das die Naturtalente im Lügen?

Suchotzki: Die Forschung zeigt, dass man kein Naturtalent zum Lügen sein muss. Die Menschen sind im Erkennen von Lügen sowieso sehr schlecht. Die Wahrscheinlichkeit liegt in etwa bei 50:50, da könnte man also auch eine Münze werfen.

Gibt es nun geschlechtsspezifische Unterschiede zwischen Männern und Frauen in Bezug aufs Lügen?

Suchotzki: Kaum. Ob Männer oder Frauen besser oder anders lügen ist eine Frage, die viele Leute brennend zu interessieren scheint. Bisher wurden da aber, wenn überhaupt, nur minimale Unterschiede gefunden.

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